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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das
negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffine-
ments des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall.
Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden hässliche,
also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Er-
scheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung
sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte
beaute du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel.

Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn
wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen
fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer
im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewusstseins, so
doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer
im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls
im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer
psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muss, um jenes
sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das
aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in
der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes
erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches
und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt geniesst,
bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch
wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz
nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfin-
dungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung
mit, dass das Alte -- welches das durch die Zeitreihe Ver-
breitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch
die Raumreihe -- die primitive Gestaltung gegenüber dem
Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existie-
renden bedeutet. So finden wir, dass in Indien die sociale
Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist:
die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten -- wie
mir scheint, aus dem Grunde, dass sie die komplicierteren,
feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen
auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange
Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen
und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für
die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte
machen können. -- Was in diesen Fragen so leicht irre führt,
ist dies, dass so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des
Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbrei-
teten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte
oder psychologische Naturgesetze aufgefasst werden und dann
freilich in den Widerspruch verwickeln, dass ein Naturgesetz
das genaue Gegenteil des andern auszusagen scheint. Der-
artige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des
Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammen-
fassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders

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wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das
negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffine-
ments des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall.
Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden häſsliche,
also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Er-
scheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung
sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte
beauté du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel.

Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn
wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen
fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer
im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewuſstseins, so
doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer
im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls
im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer
psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muſs, um jenes
sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das
aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in
der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes
erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches
und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt genieſst,
bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch
wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz
nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfin-
dungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung
mit, daſs das Alte — welches das durch die Zeitreihe Ver-
breitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch
die Raumreihe — die primitive Gestaltung gegenüber dem
Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existie-
renden bedeutet. So finden wir, daſs in Indien die sociale
Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist:
die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten — wie
mir scheint, aus dem Grunde, daſs sie die komplicierteren,
feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen
auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange
Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen
und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für
die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte
machen können. — Was in diesen Fragen so leicht irre führt,
ist dies, daſs so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des
Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbrei-
teten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte
oder psychologische Naturgesetze aufgefaſst werden und dann
freilich in den Widerspruch verwickeln, daſs ein Naturgesetz
das genaue Gegenteil des andern auszusagen scheint. Der-
artige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des
Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammen-
fassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders

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[73/0087] X 1. wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffine- ments des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall. Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden häſsliche, also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Er- scheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte beauté du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel. Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewuſstseins, so doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muſs, um jenes sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt genieſst, bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfin- dungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung mit, daſs das Alte — welches das durch die Zeitreihe Ver- breitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch die Raumreihe — die primitive Gestaltung gegenüber dem Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existie- renden bedeutet. So finden wir, daſs in Indien die sociale Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist: die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten — wie mir scheint, aus dem Grunde, daſs sie die komplicierteren, feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte machen können. — Was in diesen Fragen so leicht irre führt, ist dies, daſs so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbrei- teten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte oder psychologische Naturgesetze aufgefaſst werden und dann freilich in den Widerspruch verwickeln, daſs ein Naturgesetz das genaue Gegenteil des andern auszusagen scheint. Der- artige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammen- fassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/87>, abgerufen am 04.05.2024.