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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über
dem Trennenden das Zusammenschliessende vergessen werden!
Dass dies Interesse an der Differenziertheit, das also die
Grundlage des eigenen Wertbewusstseins und des praktischen
Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psycholo-
gisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, dass
dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differen-
zierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher
Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, dass Vereinigungen --
von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungs-
komitees --, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und
Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen,
die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschliessende
Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen be-
wegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so
sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, dass dieser Gegen-
satz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht
da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun
der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegen-
sätzen gegenüber gegründet ist.

War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der
Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite
aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so
lässt sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem
Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine
allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hin-
durch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren
und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es
aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die
Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt
wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat.
Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und kompli-
cierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets
variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass
jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird.
Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band,
das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben
eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es
uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere
Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von
diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch
treffender Induktionsschluss. Die Differenzierung kann freilich
auch nach der Seite des Hässlichen und Bösen stattfinden.
Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, dass bei hoch-
differenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch
Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucks-
weise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmässiges,
das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht

X 1.
So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über
dem Trennenden das Zusammenschlieſsende vergessen werden!
Daſs dies Interesse an der Differenziertheit, das also die
Grundlage des eigenen Wertbewuſstseins und des praktischen
Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psycholo-
gisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, daſs
dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differen-
zierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher
Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daſs Vereinigungen —
von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungs-
komitees —, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und
Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen,
die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschlieſsende
Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen be-
wegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so
sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daſs dieser Gegen-
satz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht
da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun
der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegen-
sätzen gegenüber gegründet ist.

War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der
Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite
aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so
läſst sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem
Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine
allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hin-
durch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren
und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es
aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die
Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt
wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat.
Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und kompli-
cierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets
variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daſs
jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird.
Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band,
das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben
eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es
uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere
Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von
diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch
treffender Induktionsschluſs. Die Differenzierung kann freilich
auch nach der Seite des Häſslichen und Bösen stattfinden.
Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, daſs bei hoch-
differenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch
Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucks-
weise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmäſsiges,
das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht

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[72/0086] X 1. So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über dem Trennenden das Zusammenschlieſsende vergessen werden! Daſs dies Interesse an der Differenziertheit, das also die Grundlage des eigenen Wertbewuſstseins und des praktischen Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psycholo- gisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, daſs dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differen- zierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daſs Vereinigungen — von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungs- komitees —, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen, die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschlieſsende Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen be- wegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daſs dieser Gegen- satz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegen- sätzen gegenüber gegründet ist. War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so läſst sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hin- durch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat. Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und kompli- cierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daſs jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird. Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band, das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch treffender Induktionsschluſs. Die Differenzierung kann freilich auch nach der Seite des Häſslichen und Bösen stattfinden. Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, daſs bei hoch- differenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucks- weise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmäſsiges, das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/86>, abgerufen am 03.05.2024.