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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermess-
lichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen er-
klärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen,
die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allge-
meine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefasst werden und
also gleichzeitige und gleichmässige Anwendung auf jede Er-
scheinung fordern. Dass sie freilich, nachdem sie lange genug
als blosse Folgeerscheinung im Bewusstsein waren, dann auch
im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psycholo-
gischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber
kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen
Tendenz dadurch widerlegt werden, dass auch eine entgegen-
gesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, dass
das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der
Thatsache, dass auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird.

Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrach-
teten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jün-
geren und Individuelleren die grössere Sicherheit der Ver-
erbung, die grössere Gewissheit, jedem Einzelnen überliefert
zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, dass grossen
Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher
erreichten Kultur eigen sein werden.

Von dieser Grundlage aus wird uns z. B. die auffallende
Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Über-
zeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Men-
schen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens
dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden,
dass ein Einfluss des Wissens auf die Charakterbildung nur
insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten
der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Ein-
zelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine
Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes
Wissen zu erwerben, -- zu dieser Zeit sei sein Charakter
und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In
der Periode der Bildung dieser ist er ausschliesslich den Ein-
flüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des
in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich
je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr
verschiedenen Resultaten führen werden -- man denke z. B.
daran, wie verschieden die den Individuen social entgegen-
gebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke
oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige
oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muss. Ist nun
aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges,
so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische For-
mierung, dass diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen
Bildung übereinstimmt, die wir dann an dem fertigen, mit
individuellem Inhalt erfüllten Geiste wahrnehmen. Wir mögen

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zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermeſs-
lichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen er-
klärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen,
die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allge-
meine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefaſst werden und
also gleichzeitige und gleichmäſsige Anwendung auf jede Er-
scheinung fordern. Daſs sie freilich, nachdem sie lange genug
als bloſse Folgeerscheinung im Bewuſstsein waren, dann auch
im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psycholo-
gischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber
kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen
Tendenz dadurch widerlegt werden, daſs auch eine entgegen-
gesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, daſs
das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der
Thatsache, daſs auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird.

Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrach-
teten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jün-
geren und Individuelleren die gröſsere Sicherheit der Ver-
erbung, die gröſsere Gewiſsheit, jedem Einzelnen überliefert
zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, daſs groſsen
Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher
erreichten Kultur eigen sein werden.

Von dieser Grundlage aus wird uns z. B. die auffallende
Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Über-
zeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Men-
schen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens
dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden,
daſs ein Einfluſs des Wissens auf die Charakterbildung nur
insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten
der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Ein-
zelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine
Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes
Wissen zu erwerben, — zu dieser Zeit sei sein Charakter
und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In
der Periode der Bildung dieser ist er ausschlieſslich den Ein-
flüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des
in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich
je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr
verschiedenen Resultaten führen werden — man denke z. B.
daran, wie verschieden die den Individuen social entgegen-
gebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke
oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige
oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muſs. Ist nun
aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges,
so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische For-
mierung, daſs diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen
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[74/0088] X 1. zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermeſs- lichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen er- klärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen, die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allge- meine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefaſst werden und also gleichzeitige und gleichmäſsige Anwendung auf jede Er- scheinung fordern. Daſs sie freilich, nachdem sie lange genug als bloſse Folgeerscheinung im Bewuſstsein waren, dann auch im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psycholo- gischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen Tendenz dadurch widerlegt werden, daſs auch eine entgegen- gesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, daſs das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der Thatsache, daſs auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird. Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrach- teten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jün- geren und Individuelleren die gröſsere Sicherheit der Ver- erbung, die gröſsere Gewiſsheit, jedem Einzelnen überliefert zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, daſs groſsen Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher erreichten Kultur eigen sein werden. Von dieser Grundlage aus wird uns z. B. die auffallende Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Über- zeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Men- schen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden, daſs ein Einfluſs des Wissens auf die Charakterbildung nur insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Ein- zelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes Wissen zu erwerben, — zu dieser Zeit sei sein Charakter und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In der Periode der Bildung dieser ist er ausschlieſslich den Ein- flüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr verschiedenen Resultaten führen werden — man denke z. B. daran, wie verschieden die den Individuen social entgegen- gebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muſs. Ist nun aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges, so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische For- mierung, daſs diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen Bildung übereinstimmt, die wir dann an dem fertigen, mit individuellem Inhalt erfüllten Geiste wahrnehmen. Wir mögen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/88>, abgerufen am 04.05.2024.