Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent-halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, dass alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des Selteneren entstammen. Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit X 1. halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent-halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daſs alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des Selteneren entstammen. Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0085" n="71"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent-<lb/> halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daſs<lb/> alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des<lb/> Selteneren entstammen.</p><lb/> <p>Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit<lb/> mit Anderen ist zwar als Thatsache wie als Tendenz von<lb/> nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen<lb/> sie, und beide sind in den mannichfaltigsten Formen die groſsen<lb/> Prinzipien für alle äuſsere und innere Entwicklung, sodaſs<lb/> die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Ge-<lb/> schichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen<lb/> ihnen aufgefaſst werden kann; allein für das Handeln inner-<lb/> halb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied<lb/> gegen die Anderen von weit gröſserem Interesse, als die Gleich-<lb/> heit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist<lb/> es, was unsere Thätigkeit groſsenteils herausfordert und be-<lb/> stimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir<lb/> angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung<lb/> unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des prakti-<lb/> schen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil<lb/> oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen<lb/> übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grund-<lb/> lage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er<lb/> habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen<lb/> getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten ge-<lb/> glaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die<lb/> von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den prak-<lb/> tischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewuſstsein so aus,<lb/> daſs für die Gleichheit in allen Hauptsachen mit den übrigen<lb/> Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei.<lb/> Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt<lb/> sich begreiflich auch auf alle anderen Beziehungen des Ich.<lb/> Man wird im allgemeinen sagen können, daſs bei objektiv<lb/> gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit<lb/> und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven<lb/> Geist die erstere mehr in der Form von Unbewuſstheit, die<lb/> letztere mehr in der der Bewuſstheit existieren wird. Die<lb/> organische Zweckmäſsigkeit spart das Bewuſstsein in jenem<lb/> Fall, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke<lb/> nötiger ist. Bis zu welchem Grade aber die Vorstellung der<lb/> Verschiedenheit die der Gleichheit verdunkeln kann, zeigt<lb/> vielleicht kein Beispiel lehrreicher, als die konfessionalisti-<lb/> schen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten,<lb/> namentlich im 17. Jahrhundert. Kaum war die groſse Ab-<lb/> sonderung gegen den Katholicismus geschehen, so spaltet sich<lb/> das Ganze um der nichtigsten Dinge willen in Parteien, die<lb/> man oft genug äuſsern hört: man könnte eher mit den Papisten<lb/> Gemeinschaft halten, als mit denen von der andern Konfession!<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0085]
X 1.
halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent-
halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daſs
alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des
Selteneren entstammen.
Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit
mit Anderen ist zwar als Thatsache wie als Tendenz von
nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen
sie, und beide sind in den mannichfaltigsten Formen die groſsen
Prinzipien für alle äuſsere und innere Entwicklung, sodaſs
die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Ge-
schichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen
ihnen aufgefaſst werden kann; allein für das Handeln inner-
halb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied
gegen die Anderen von weit gröſserem Interesse, als die Gleich-
heit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist
es, was unsere Thätigkeit groſsenteils herausfordert und be-
stimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir
angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung
unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des prakti-
schen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil
oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen
übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grund-
lage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er
habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen
getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten ge-
glaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die
von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den prak-
tischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewuſstsein so aus,
daſs für die Gleichheit in allen Hauptsachen mit den übrigen
Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei.
Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt
sich begreiflich auch auf alle anderen Beziehungen des Ich.
Man wird im allgemeinen sagen können, daſs bei objektiv
gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit
und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven
Geist die erstere mehr in der Form von Unbewuſstheit, die
letztere mehr in der der Bewuſstheit existieren wird. Die
organische Zweckmäſsigkeit spart das Bewuſstsein in jenem
Fall, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke
nötiger ist. Bis zu welchem Grade aber die Vorstellung der
Verschiedenheit die der Gleichheit verdunkeln kann, zeigt
vielleicht kein Beispiel lehrreicher, als die konfessionalisti-
schen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten,
namentlich im 17. Jahrhundert. Kaum war die groſse Ab-
sonderung gegen den Katholicismus geschehen, so spaltet sich
das Ganze um der nichtigsten Dinge willen in Parteien, die
man oft genug äuſsern hört: man könnte eher mit den Papisten
Gemeinschaft halten, als mit denen von der andern Konfession!
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