Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. rein persönliches ist, eine Verbindung zwischen ihm undChristus herstellt, die von keiner anderen gekreuzt wird, und dennoch die blosse Thatsache, dass diese Fäden alle in Christus zusammenlaufen, sie gewissermassen nachträglich ver- webt. Und im Grunde beruht die unermessliche socialisie- rende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; ge- rade das specifische Gefühl, aus dem man gern die Religion herleitet, das der Abhängigkeit, ist ganz besonders geeignet, unter den in gleicher Weise von ihm Erfüllten Religion, d. h., nach der alten, wenn auch sprachlich falschen Deutung, Ver- bindung zu stiften. Ich hebe ferner in dieser Hinsicht her- vor, dass der erste Zusammenhalt der patriarchalischen Fa- milienform sich nicht auf der Erzeugung durch den Vater, sondern auf seiner Herrschaft aufbaute, ihre Einheit im Empfinden und Handeln sich also gleichfalls nicht a priori, sondern nachträglich durch das gleiche Verhältnis zu einem Dritten herstellte; und was die zusammenschliessende Wir- kung eines gemeinsamen feindseligen Verhaltens betrifft, so hat schon der Verfasser des Gesetzbuches des Manu betont, der Fürst möge seinen Nachbar stets für seinen Feind, den Nachbar seines Nachbars aber für seinen Freund halten, und es braucht unter vielfachen Beispielen nur daran erinnert zu werden, dass Frankreich das Bewusstsein seiner nationalen Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampfe gegen die Engländer verdankt, wozu dann die Geschichte der letzten deutschen Reichsbildung das Seitenstück geliefert hat. Kurz, dass das Nebeneinander zum Miteinander, dass die lokale, gleichsam anatomische Einheit zur physiologischen werde, ist unzählige mal dem gemeinsamen, freiwilligen oder erzwungenen Verhalten einem Dritten gegenüber zuzuschreiben. Was die Sprache sehr bezeichnend vom Einzelnen sagt, dass er bei Bethätigung gegen andere "sich zusammennehmen" muss, wenn er auch sonst "zerstreut" oder "zerfahren" ist, das gilt genau ebenso von ganzen Gruppen. Aus alledem ist es hinreichend klar, dass das ethische Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 3
X 1. rein persönliches ist, eine Verbindung zwischen ihm undChristus herstellt, die von keiner anderen gekreuzt wird, und dennoch die bloſse Thatsache, daſs diese Fäden alle in Christus zusammenlaufen, sie gewissermaſsen nachträglich ver- webt. Und im Grunde beruht die unermeſsliche socialisie- rende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; ge- rade das specifische Gefühl, aus dem man gern die Religion herleitet, das der Abhängigkeit, ist ganz besonders geeignet, unter den in gleicher Weise von ihm Erfüllten Religion, d. h., nach der alten, wenn auch sprachlich falschen Deutung, Ver- bindung zu stiften. Ich hebe ferner in dieser Hinsicht her- vor, daſs der erste Zusammenhalt der patriarchalischen Fa- milienform sich nicht auf der Erzeugung durch den Vater, sondern auf seiner Herrschaft aufbaute, ihre Einheit im Empfinden und Handeln sich also gleichfalls nicht a priori, sondern nachträglich durch das gleiche Verhältnis zu einem Dritten herstellte; und was die zusammenschlieſsende Wir- kung eines gemeinsamen feindseligen Verhaltens betrifft, so hat schon der Verfasser des Gesetzbuches des Manu betont, der Fürst möge seinen Nachbar stets für seinen Feind, den Nachbar seines Nachbars aber für seinen Freund halten, und es braucht unter vielfachen Beispielen nur daran erinnert zu werden, daſs Frankreich das Bewuſstsein seiner nationalen Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampfe gegen die Engländer verdankt, wozu dann die Geschichte der letzten deutschen Reichsbildung das Seitenstück geliefert hat. Kurz, daſs das Nebeneinander zum Miteinander, daſs die lokale, gleichsam anatomische Einheit zur physiologischen werde, ist unzählige mal dem gemeinsamen, freiwilligen oder erzwungenen Verhalten einem Dritten gegenüber zuzuschreiben. Was die Sprache sehr bezeichnend vom Einzelnen sagt, daſs er bei Bethätigung gegen andere „sich zusammennehmen“ muſs, wenn er auch sonst „zerstreut“ oder „zerfahren“ ist, das gilt genau ebenso von ganzen Gruppen. Aus alledem ist es hinreichend klar, daſs das ethische Forschungen (42) X 1. — Simmel. 3
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X 1.
rein persönliches ist, eine Verbindung zwischen ihm und
Christus herstellt, die von keiner anderen gekreuzt wird, und
dennoch die bloſse Thatsache, daſs diese Fäden alle in
Christus zusammenlaufen, sie gewissermaſsen nachträglich ver-
webt. Und im Grunde beruht die unermeſsliche socialisie-
rende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der
Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; ge-
rade das specifische Gefühl, aus dem man gern die Religion
herleitet, das der Abhängigkeit, ist ganz besonders geeignet,
unter den in gleicher Weise von ihm Erfüllten Religion, d. h.,
nach der alten, wenn auch sprachlich falschen Deutung, Ver-
bindung zu stiften. Ich hebe ferner in dieser Hinsicht her-
vor, daſs der erste Zusammenhalt der patriarchalischen Fa-
milienform sich nicht auf der Erzeugung durch den Vater,
sondern auf seiner Herrschaft aufbaute, ihre Einheit im
Empfinden und Handeln sich also gleichfalls nicht a priori,
sondern nachträglich durch das gleiche Verhältnis zu einem
Dritten herstellte; und was die zusammenschlieſsende Wir-
kung eines gemeinsamen feindseligen Verhaltens betrifft, so
hat schon der Verfasser des Gesetzbuches des Manu betont,
der Fürst möge seinen Nachbar stets für seinen Feind, den
Nachbar seines Nachbars aber für seinen Freund halten, und
es braucht unter vielfachen Beispielen nur daran erinnert zu
werden, daſs Frankreich das Bewuſstsein seiner nationalen
Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampfe gegen die
Engländer verdankt, wozu dann die Geschichte der letzten
deutschen Reichsbildung das Seitenstück geliefert hat. Kurz,
daſs das Nebeneinander zum Miteinander, daſs die lokale,
gleichsam anatomische Einheit zur physiologischen werde, ist
unzählige mal dem gemeinsamen, freiwilligen oder erzwungenen
Verhalten einem Dritten gegenüber zuzuschreiben. Was die
Sprache sehr bezeichnend vom Einzelnen sagt, daſs er bei
Bethätigung gegen andere „sich zusammennehmen“ muſs,
wenn er auch sonst „zerstreut“ oder „zerfahren“ ist, das gilt
genau ebenso von ganzen Gruppen.
Aus alledem ist es hinreichend klar, daſs das ethische
Verschulden des Einzelnen einem Dritten gegenüber diesen
zu Reaktionen gegen die ganze Gruppe anregen muſs, der
jener angehört, und daſs eine äuſserst feine Differenzierung
sowohl objektiv innerhalb der Gruppe, wie subjektiv im Er-
kenntnisvermögen des Verletzten vorgehen muſs, um das re-
agierende Empfinden und Handeln genau zu lokalisieren.
Die thatsächliche Differenzierung hinkt indes, namentlich wo
es sich um strafende Reaktionen handelt, der theoretischen
oft bedeutend nach. So sehr jeder kultiviertere Mensch und
jede höhere Gesetzgebung es verwerfen mag, die Angehörigen
eines Verbrechers für dessen That mit büſsen zu lassen, so
geschieht das thatsächlich doch noch in hohem Maſse und
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