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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Gemeinsamkeit des Vorgehens veranlasst, und dass diese, auch
ohne dass eine reale Einheit vorhergeht, nun umgekehrt eine
solche bewirkt. Ich halte dies für den tieferen und wich-
tigeren, wenngleich verborgeneren Prozess. Auch auf ent-
wickeltsten Gebieten glauben wir oft, dass die solidarische
Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammen-
gehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese
erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft
auch dauernd bewirkt wurde; hier wie sonst bilden sich die
Organe nach den Funktionen, die die Umstände von ihnen
verlangen, nicht aber sind jene, resp. die Subjekte, immer
von vornherein so eingerichtet, dass sich die geforderte Leist-
ung von selbst, wie von innen heraus ergiebt. Auch inner-
halb des Individuums ist dasjenige, was man Einheit der
Persönlichkeit nennt, keineswegs die Grundlage des Wesens,
aus der nun die Einheit des Verhaltens gegenüber Menschen
und Aufgaben folgte, sondern umgekehrt hat oft erst die
praktische Notwendigkeit für die verschiedenen Seelenkräfte,
sich einem Dritten gegenüber gleich zu verhalten, innere Be-
ziehungen und Vereinheitlichungen unter ihnen zur Folge.
So gewinnt z. B. ein Mensch, der von widersprechenden
Neigungen und Leidenschaften erfüllt ist, den etwa sinnliche,
intellektuelle, ethische Triebe nach ganz verschiedenen Seiten
reissen, die Einheitlichkeit seines Wesens dadurch, dass die
religiöse Idee über ihn kommt; indem die verschiedenen
Seiten seiner Natur sich gleichmässig dem fügen, was als
göttlicher Wille für jede derselben offenbart ist, und so in
das gleiche Verhältnis zu der Gottesidee treten, entsteht eben
hierdurch eine Einheitlichkeit unter ihnen, die ihnen ur-
sprünglich vollkommen fremd war. Oder wo etwa dich-
terische Phantasie sich mit starkem Verstande zusammenfindet
und dadurch das Bewusstsein in einen steten Zwiespalt
zwischen idealistischer und realistischer Anschauung der
Dinge versetzt, da wird die Notwendigkeit, ein bestimmtes
Lebensziel zu erreichen, oder einer Person gegenüber eine
bestimmte Stellung einzunehmen, die zersplitterten Kräfte oft
zur Einheit zusammenführen und wird der Phantasie die
gleiche Richtung mit dem Denken geben u. s. w. Zu zusammen-
gesetzteren Gebilden fortschreitend, erwähne ich als Beispiel,
wie das gemeinsame Verhalten zu einem Dritten den kollek-
tivistischen Zusammenhalt bewirkt und stärkt, die Sekte der
Herrnhuter. Zu Christus, den sie als den unmittelbaren
Herrn ihrer Gemeinde ansehen, hat jedes Mitglied ein ganz
individuelles, man könnte sagen, ein Herzensverhältnis; und
dies führt zu einem so unbedingten Zusammenschluss der
Mitglieder der Gemeinde, wie er in keiner anderen zu finden
ist. Dieser Fall ist deshalb so belehrend, weil jenes Verhält-
nis des Einzelnen zu dem zusammenhaltenden Prinzip ein

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Gemeinsamkeit des Vorgehens veranlaſst, und daſs diese, auch
ohne daſs eine reale Einheit vorhergeht, nun umgekehrt eine
solche bewirkt. Ich halte dies für den tieferen und wich-
tigeren, wenngleich verborgeneren Prozeſs. Auch auf ent-
wickeltsten Gebieten glauben wir oft, daſs die solidarische
Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammen-
gehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese
erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft
auch dauernd bewirkt wurde; hier wie sonst bilden sich die
Organe nach den Funktionen, die die Umstände von ihnen
verlangen, nicht aber sind jene, resp. die Subjekte, immer
von vornherein so eingerichtet, daſs sich die geforderte Leist-
ung von selbst, wie von innen heraus ergiebt. Auch inner-
halb des Individuums ist dasjenige, was man Einheit der
Persönlichkeit nennt, keineswegs die Grundlage des Wesens,
aus der nun die Einheit des Verhaltens gegenüber Menschen
und Aufgaben folgte, sondern umgekehrt hat oft erst die
praktische Notwendigkeit für die verschiedenen Seelenkräfte,
sich einem Dritten gegenüber gleich zu verhalten, innere Be-
ziehungen und Vereinheitlichungen unter ihnen zur Folge.
So gewinnt z. B. ein Mensch, der von widersprechenden
Neigungen und Leidenschaften erfüllt ist, den etwa sinnliche,
intellektuelle, ethische Triebe nach ganz verschiedenen Seiten
reiſsen, die Einheitlichkeit seines Wesens dadurch, daſs die
religiöse Idee über ihn kommt; indem die verschiedenen
Seiten seiner Natur sich gleichmäſsig dem fügen, was als
göttlicher Wille für jede derselben offenbart ist, und so in
das gleiche Verhältnis zu der Gottesidee treten, entsteht eben
hierdurch eine Einheitlichkeit unter ihnen, die ihnen ur-
sprünglich vollkommen fremd war. Oder wo etwa dich-
terische Phantasie sich mit starkem Verstande zusammenfindet
und dadurch das Bewuſstsein in einen steten Zwiespalt
zwischen idealistischer und realistischer Anschauung der
Dinge versetzt, da wird die Notwendigkeit, ein bestimmtes
Lebensziel zu erreichen, oder einer Person gegenüber eine
bestimmte Stellung einzunehmen, die zersplitterten Kräfte oft
zur Einheit zusammenführen und wird der Phantasie die
gleiche Richtung mit dem Denken geben u. s. w. Zu zusammen-
gesetzteren Gebilden fortschreitend, erwähne ich als Beispiel,
wie das gemeinsame Verhalten zu einem Dritten den kollek-
tivistischen Zusammenhalt bewirkt und stärkt, die Sekte der
Herrnhuter. Zu Christus, den sie als den unmittelbaren
Herrn ihrer Gemeinde ansehen, hat jedes Mitglied ein ganz
individuelles, man könnte sagen, ein Herzensverhältnis; und
dies führt zu einem so unbedingten Zusammenschluſs der
Mitglieder der Gemeinde, wie er in keiner anderen zu finden
ist. Dieser Fall ist deshalb so belehrend, weil jenes Verhält-
nis des Einzelnen zu dem zusammenhaltenden Prinzip ein

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[32/0046] X 1. Gemeinsamkeit des Vorgehens veranlaſst, und daſs diese, auch ohne daſs eine reale Einheit vorhergeht, nun umgekehrt eine solche bewirkt. Ich halte dies für den tieferen und wich- tigeren, wenngleich verborgeneren Prozeſs. Auch auf ent- wickeltsten Gebieten glauben wir oft, daſs die solidarische Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammen- gehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft auch dauernd bewirkt wurde; hier wie sonst bilden sich die Organe nach den Funktionen, die die Umstände von ihnen verlangen, nicht aber sind jene, resp. die Subjekte, immer von vornherein so eingerichtet, daſs sich die geforderte Leist- ung von selbst, wie von innen heraus ergiebt. Auch inner- halb des Individuums ist dasjenige, was man Einheit der Persönlichkeit nennt, keineswegs die Grundlage des Wesens, aus der nun die Einheit des Verhaltens gegenüber Menschen und Aufgaben folgte, sondern umgekehrt hat oft erst die praktische Notwendigkeit für die verschiedenen Seelenkräfte, sich einem Dritten gegenüber gleich zu verhalten, innere Be- ziehungen und Vereinheitlichungen unter ihnen zur Folge. So gewinnt z. B. ein Mensch, der von widersprechenden Neigungen und Leidenschaften erfüllt ist, den etwa sinnliche, intellektuelle, ethische Triebe nach ganz verschiedenen Seiten reiſsen, die Einheitlichkeit seines Wesens dadurch, daſs die religiöse Idee über ihn kommt; indem die verschiedenen Seiten seiner Natur sich gleichmäſsig dem fügen, was als göttlicher Wille für jede derselben offenbart ist, und so in das gleiche Verhältnis zu der Gottesidee treten, entsteht eben hierdurch eine Einheitlichkeit unter ihnen, die ihnen ur- sprünglich vollkommen fremd war. Oder wo etwa dich- terische Phantasie sich mit starkem Verstande zusammenfindet und dadurch das Bewuſstsein in einen steten Zwiespalt zwischen idealistischer und realistischer Anschauung der Dinge versetzt, da wird die Notwendigkeit, ein bestimmtes Lebensziel zu erreichen, oder einer Person gegenüber eine bestimmte Stellung einzunehmen, die zersplitterten Kräfte oft zur Einheit zusammenführen und wird der Phantasie die gleiche Richtung mit dem Denken geben u. s. w. Zu zusammen- gesetzteren Gebilden fortschreitend, erwähne ich als Beispiel, wie das gemeinsame Verhalten zu einem Dritten den kollek- tivistischen Zusammenhalt bewirkt und stärkt, die Sekte der Herrnhuter. Zu Christus, den sie als den unmittelbaren Herrn ihrer Gemeinde ansehen, hat jedes Mitglied ein ganz individuelles, man könnte sagen, ein Herzensverhältnis; und dies führt zu einem so unbedingten Zusammenschluſs der Mitglieder der Gemeinde, wie er in keiner anderen zu finden ist. Dieser Fall ist deshalb so belehrend, weil jenes Verhält- nis des Einzelnen zu dem zusammenhaltenden Prinzip ein

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/46>, abgerufen am 26.04.2024.