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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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zwar unmittelbar dadurch, dass Frau und Kinder eines Straf-
gefangenen oft dem hilflosesten Elend preisgegeben sind,
mittelbar, indem die Gesellschaft diese und selbst entferntere
Verwandte zwar nicht zugestandenermassen, aber doch that-
sächlich ächtet. -- Das Streben zu höherer Differenzierung
in dieser Richtung macht nun übrigens bei dem Individuum
nicht Halt, sondern setzt sich noch in dem Verhalten gegen
dieses fort. Mit verfeinerter Erkenntnis machen wir immer
weniger den ganzen Menschen für ein ethisches Verschulden
verantwortbar und begreifen vielmehr, dass Erziehung, Bei-
spiel, Naturanlage einen einzelnen Trieb oder Vorstellungs-
kreis verdorben haben können, während der übrige Teil der
Persönlichkeit sich durchaus sittlich verhalten mag. Die fort-
schreitende Differenzierung unter den praktischen Elementen
unserer Natur trägt objektiv dazu ebensoviel bei wie subjek-
tiv die unter ihren theoretischen Kräften; je feiner die Per-
sönlichkeit ausgebildet ist, je gesonderter und selbständiger
ihre verschiedenen Triebe, Fähigkeiten und Interessen neben-
einander stehen, desto eher kann die Schuld thatsächlich auf
einem Teil ihrer haften, ohne ihrer Gesamtheit zurechenbar
zu sein; dies ist z. B. auf dem sexuellen Gebiet recht klar,
das oft eine ziemlich hochgradige Unsittlichkeit bei völliger
Tadellosigkeit des anderweitigen Verhaltens aufweist.

Und nun subjektiv: in dem Masse, in dem der Beurtei-
lende nicht mehr seine ganze Persönlichkeit in die Empfin-
dung hineinlegt, die der andere ihm bereitet, und der That
desselben keine andere Folge gestattet als die ihr genau ent-
sprechende, in diesem Masse wird er auch jenem gegenüber
objektiv, beschränkt seine Reaktion auf den Umfang, in dem
die That selbst nur ein Teil der Persönlichkeit jenes ist,
lernt er die Sache von der Person, das Einzelne vom Ganzen
zu trennen; so erkennt die Gesellschaft den eben angeführten
Fall der sexuellen Unsittlichkeit bekanntlich sogar im ex-
tremsten Masse an, indem sie dem männlichen Sünder auf
diesem Gebiete kaum ein Minimum derjenigen socialen Strafen
zudiktiert, die sie sonst schon auf eine geringere Immoralität
setzt -- wovon die Ursachen freilich ausser in jener Dif-
ferenzierung gerade in einem Rudiment des Barbarismus
gegenüber den Frauen liegen. Die Verbindung der subjek-
tiven Differenzierung mit der höheren Entwicklung zeigt
sich auch an den gegenteiligen Erscheinungen, an dem die
ganze Person packenden Jähzorn roher Naturen, an der voll-
kommenen Erfülltheit des unkultivierten Menschen durch den
augenblicklichen Affekt, an den Urteilen in Bausch und
Bogen, zu denen ungebildetere Geister neigen; sie zeigt sich
an jener eigentümlichen Empfindung von Solidarität, der ge-
mäss man "Rache an der Menschheit" oder "Rache an den
Männern, Frauen etc." fordern hört, und zwar insbesondere

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zwar unmittelbar dadurch, daſs Frau und Kinder eines Straf-
gefangenen oft dem hilflosesten Elend preisgegeben sind,
mittelbar, indem die Gesellschaft diese und selbst entferntere
Verwandte zwar nicht zugestandenermaſsen, aber doch that-
sächlich ächtet. — Das Streben zu höherer Differenzierung
in dieser Richtung macht nun übrigens bei dem Individuum
nicht Halt, sondern setzt sich noch in dem Verhalten gegen
dieses fort. Mit verfeinerter Erkenntnis machen wir immer
weniger den ganzen Menschen für ein ethisches Verschulden
verantwortbar und begreifen vielmehr, daſs Erziehung, Bei-
spiel, Naturanlage einen einzelnen Trieb oder Vorstellungs-
kreis verdorben haben können, während der übrige Teil der
Persönlichkeit sich durchaus sittlich verhalten mag. Die fort-
schreitende Differenzierung unter den praktischen Elementen
unserer Natur trägt objektiv dazu ebensoviel bei wie subjek-
tiv die unter ihren theoretischen Kräften; je feiner die Per-
sönlichkeit ausgebildet ist, je gesonderter und selbständiger
ihre verschiedenen Triebe, Fähigkeiten und Interessen neben-
einander stehen, desto eher kann die Schuld thatsächlich auf
einem Teil ihrer haften, ohne ihrer Gesamtheit zurechenbar
zu sein; dies ist z. B. auf dem sexuellen Gebiet recht klar,
das oft eine ziemlich hochgradige Unsittlichkeit bei völliger
Tadellosigkeit des anderweitigen Verhaltens aufweist.

Und nun subjektiv: in dem Maſse, in dem der Beurtei-
lende nicht mehr seine ganze Persönlichkeit in die Empfin-
dung hineinlegt, die der andere ihm bereitet, und der That
desselben keine andere Folge gestattet als die ihr genau ent-
sprechende, in diesem Maſse wird er auch jenem gegenüber
objektiv, beschränkt seine Reaktion auf den Umfang, in dem
die That selbst nur ein Teil der Persönlichkeit jenes ist,
lernt er die Sache von der Person, das Einzelne vom Ganzen
zu trennen; so erkennt die Gesellschaft den eben angeführten
Fall der sexuellen Unsittlichkeit bekanntlich sogar im ex-
tremsten Maſse an, indem sie dem männlichen Sünder auf
diesem Gebiete kaum ein Minimum derjenigen socialen Strafen
zudiktiert, die sie sonst schon auf eine geringere Immoralität
setzt — wovon die Ursachen freilich auſser in jener Dif-
ferenzierung gerade in einem Rudiment des Barbarismus
gegenüber den Frauen liegen. Die Verbindung der subjek-
tiven Differenzierung mit der höheren Entwicklung zeigt
sich auch an den gegenteiligen Erscheinungen, an dem die
ganze Person packenden Jähzorn roher Naturen, an der voll-
kommenen Erfülltheit des unkultivierten Menschen durch den
augenblicklichen Affekt, an den Urteilen in Bausch und
Bogen, zu denen ungebildetere Geister neigen; sie zeigt sich
an jener eigentümlichen Empfindung von Solidarität, der ge-
mäſs man „Rache an der Menschheit“ oder „Rache an den
Männern, Frauen etc.“ fordern hört, und zwar insbesondere

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[34/0048] X 1. zwar unmittelbar dadurch, daſs Frau und Kinder eines Straf- gefangenen oft dem hilflosesten Elend preisgegeben sind, mittelbar, indem die Gesellschaft diese und selbst entferntere Verwandte zwar nicht zugestandenermaſsen, aber doch that- sächlich ächtet. — Das Streben zu höherer Differenzierung in dieser Richtung macht nun übrigens bei dem Individuum nicht Halt, sondern setzt sich noch in dem Verhalten gegen dieses fort. Mit verfeinerter Erkenntnis machen wir immer weniger den ganzen Menschen für ein ethisches Verschulden verantwortbar und begreifen vielmehr, daſs Erziehung, Bei- spiel, Naturanlage einen einzelnen Trieb oder Vorstellungs- kreis verdorben haben können, während der übrige Teil der Persönlichkeit sich durchaus sittlich verhalten mag. Die fort- schreitende Differenzierung unter den praktischen Elementen unserer Natur trägt objektiv dazu ebensoviel bei wie subjek- tiv die unter ihren theoretischen Kräften; je feiner die Per- sönlichkeit ausgebildet ist, je gesonderter und selbständiger ihre verschiedenen Triebe, Fähigkeiten und Interessen neben- einander stehen, desto eher kann die Schuld thatsächlich auf einem Teil ihrer haften, ohne ihrer Gesamtheit zurechenbar zu sein; dies ist z. B. auf dem sexuellen Gebiet recht klar, das oft eine ziemlich hochgradige Unsittlichkeit bei völliger Tadellosigkeit des anderweitigen Verhaltens aufweist. Und nun subjektiv: in dem Maſse, in dem der Beurtei- lende nicht mehr seine ganze Persönlichkeit in die Empfin- dung hineinlegt, die der andere ihm bereitet, und der That desselben keine andere Folge gestattet als die ihr genau ent- sprechende, in diesem Maſse wird er auch jenem gegenüber objektiv, beschränkt seine Reaktion auf den Umfang, in dem die That selbst nur ein Teil der Persönlichkeit jenes ist, lernt er die Sache von der Person, das Einzelne vom Ganzen zu trennen; so erkennt die Gesellschaft den eben angeführten Fall der sexuellen Unsittlichkeit bekanntlich sogar im ex- tremsten Maſse an, indem sie dem männlichen Sünder auf diesem Gebiete kaum ein Minimum derjenigen socialen Strafen zudiktiert, die sie sonst schon auf eine geringere Immoralität setzt — wovon die Ursachen freilich auſser in jener Dif- ferenzierung gerade in einem Rudiment des Barbarismus gegenüber den Frauen liegen. Die Verbindung der subjek- tiven Differenzierung mit der höheren Entwicklung zeigt sich auch an den gegenteiligen Erscheinungen, an dem die ganze Person packenden Jähzorn roher Naturen, an der voll- kommenen Erfülltheit des unkultivierten Menschen durch den augenblicklichen Affekt, an den Urteilen in Bausch und Bogen, zu denen ungebildetere Geister neigen; sie zeigt sich an jener eigentümlichen Empfindung von Solidarität, der ge- mäſs man „Rache an der Menschheit“ oder „Rache an den Männern, Frauen etc.“ fordern hört, und zwar insbesondere

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/48>, abgerufen am 28.03.2024.