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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt -- Grundbesitz,
Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. --, der
andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz
der andern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die
Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Neben-
einander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit
von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei
dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte
den Kapital-, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine
latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin,
dass vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wir-
kungen geübt werden kann. In sich vollkommen ein-
heitlichen Charakters, weil als blosses Tauschmittel voll-
kommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannich-
faltigkeit alles Handelns und Geniessens aus, und, in der Form
der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farben-
reichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos er-
scheinende Weiss alle Farben des Spektrums in sich enthält;
es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate,
wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsäch-
lich schliesst es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick,
sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreu-
zender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster
Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien
stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des
wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des
Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen
Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Be-
sitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander
der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber
dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung
im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene
Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente auseinander,
wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äussert,
während die Zeit des Geldbesitzes als "fruchtbarer Moment"
im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschliessung un-
zähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick
wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es
liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die
Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der
Gesamtheit führen muss, und dass es sich hier um nichts
weniger, als um den von einer bestimmten Seite her be-
trachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und
hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital
ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten
Sinne, dass eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder
verbraucht, sondern aufgespeichert worden ist, und dass künf-

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einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt — Grundbesitz,
Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. —, der
andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz
der andern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die
Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Neben-
einander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit
von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei
dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte
den Kapital-, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine
latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin,
daſs vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wir-
kungen geübt werden kann. In sich vollkommen ein-
heitlichen Charakters, weil als bloſses Tauschmittel voll-
kommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannich-
faltigkeit alles Handelns und Genieſsens aus, und, in der Form
der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farben-
reichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos er-
scheinende Weiſs alle Farben des Spektrums in sich enthält;
es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate,
wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsäch-
lich schlieſst es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick,
sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreu-
zender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster
Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien
stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des
wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des
Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen
Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Be-
sitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander
der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber
dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung
im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene
Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente auseinander,
wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äuſsert,
während die Zeit des Geldbesitzes als „fruchtbarer Moment“
im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschlieſsung un-
zähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick
wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es
liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die
Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der
Gesamtheit führen muſs, und daſs es sich hier um nichts
weniger, als um den von einer bestimmten Seite her be-
trachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und
hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital
ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten
Sinne, daſs eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder
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[144/0158] X 1. einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt — Grundbesitz, Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. —, der andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz der andern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Neben- einander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte den Kapital-, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin, daſs vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wir- kungen geübt werden kann. In sich vollkommen ein- heitlichen Charakters, weil als bloſses Tauschmittel voll- kommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannich- faltigkeit alles Handelns und Genieſsens aus, und, in der Form der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farben- reichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos er- scheinende Weiſs alle Farben des Spektrums in sich enthält; es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsäch- lich schlieſst es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick, sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreu- zender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Be- sitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente auseinander, wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äuſsert, während die Zeit des Geldbesitzes als „fruchtbarer Moment“ im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschlieſsung un- zähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der Gesamtheit führen muſs, und daſs es sich hier um nichts weniger, als um den von einer bestimmten Seite her be- trachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten Sinne, daſs eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder verbraucht, sondern aufgespeichert worden ist, und daſs künf-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/158>, abgerufen am 28.04.2024.