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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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tige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut
zweckmässigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar
dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft,
als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es
aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in
Arbeit und Differenzierung um, ohne dass bei diesem Um-
setzungsprozess etwas verloren wird. Infolgedessen aber
erfordert es auch, dass ausser ihm Arbeit und Differenzierung
vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit,
Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist. Die Differenzie-
rung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital
zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung
im Nacheinander hin; das Massverhältnis beider derart zu
bestimmen, dass im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis
eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit
eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden
sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im
Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nach-
einander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines
von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt
werden.

Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegen-
seitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da ge-
rät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten
Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig
und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beant-
worten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung
des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist
ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des
"zu" bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges
Mass, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch
absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das
richtige Mass ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem
Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das
"zu" beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Pro-
blems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da be-
sonders nahe, wo das Mass des einen Elementes eine Funktion,
wenn auch eine unstätige, von dem des andern ist, wie es
bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der
Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt,
erscheint leicht durch das Mass bestimmt, in dem ihre poten-
tielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vor-
handen oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt
man nun wieder das rechte Mass nach dem Quantum der vor-
handenen oder zu leistenden Arbeit.

Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum:
dass man das labile Gleichgewicht zwischen beiden Elementen

Forschungen (42) X 1. Simmel. 10

X 1.
tige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut
zweckmäſsigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar
dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft,
als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es
aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in
Arbeit und Differenzierung um, ohne daſs bei diesem Um-
setzungsprozeſs etwas verloren wird. Infolgedessen aber
erfordert es auch, daſs auſser ihm Arbeit und Differenzierung
vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit,
Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist. Die Differenzie-
rung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital
zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung
im Nacheinander hin; das Maſsverhältnis beider derart zu
bestimmen, daſs im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis
eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit
eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden
sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im
Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nach-
einander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines
von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt
werden.

Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegen-
seitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da ge-
rät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten
Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig
und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beant-
worten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung
des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist
ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des
„zu“ bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges
Maſs, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch
absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das
richtige Maſs ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem
Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das
„zu“ beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Pro-
blems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da be-
sonders nahe, wo das Maſs des einen Elementes eine Funktion,
wenn auch eine unstätige, von dem des andern ist, wie es
bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der
Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt,
erscheint leicht durch das Maſs bestimmt, in dem ihre poten-
tielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vor-
handen oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt
man nun wieder das rechte Maſs nach dem Quantum der vor-
handenen oder zu leistenden Arbeit.

Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum:
daſs man das labile Gleichgewicht zwischen beiden Elementen

Forschungen (42) X 1. Simmel. 10
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[145/0159] X 1. tige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut zweckmäſsigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft, als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in Arbeit und Differenzierung um, ohne daſs bei diesem Um- setzungsprozeſs etwas verloren wird. Infolgedessen aber erfordert es auch, daſs auſser ihm Arbeit und Differenzierung vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit, Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist. Die Differenzie- rung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung im Nacheinander hin; das Maſsverhältnis beider derart zu bestimmen, daſs im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nach- einander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt werden. Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegen- seitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da ge- rät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beant- worten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des „zu“ bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges Maſs, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das richtige Maſs ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das „zu“ beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Pro- blems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da be- sonders nahe, wo das Maſs des einen Elementes eine Funktion, wenn auch eine unstätige, von dem des andern ist, wie es bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt, erscheint leicht durch das Maſs bestimmt, in dem ihre poten- tielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vor- handen oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt man nun wieder das rechte Maſs nach dem Quantum der vor- handenen oder zu leistenden Arbeit. Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum: daſs man das labile Gleichgewicht zwischen beiden Elementen Forschungen (42) X 1. Simmel. 10

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/159>, abgerufen am 28.04.2024.