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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem be-
liebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten
kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit
des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem andern
versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder,
dass die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervor-
ragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu
finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die
Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die
Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen
und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, dass
für jeden auftauchenden äusseren Anspruch eine entsprechende
Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hier-
mit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt
liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Ein-
zelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande,
nur dass in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber
differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differen-
zierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich
eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos
zurückgegangen.

In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte
militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des
Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel
der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich voll-
zieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des
Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist
es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die
Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb
der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden
des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differen-
zierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung
einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die
einer andern auf einen andern stattfindet, sondern das Ganze
zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu
einer andern einer andern. Wie bei der homochronen Diffe-
renzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche
Funktionen verschliesst, so hier eine Periode. Jener auf so
vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen
der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht
sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der
ist, dass aus unterschiedsloser Organisation sich scharf ge-
sonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, dass
aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich indivi-
duelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren:
so geht eben derselbe auch dahin, dass das gleichförmige, von
Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben nie-
driger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander

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meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem be-
liebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten
kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit
des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem andern
versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder,
daſs die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervor-
ragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu
finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die
Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die
Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen
und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, daſs
für jeden auftauchenden äuſseren Anspruch eine entsprechende
Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hier-
mit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt
liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Ein-
zelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande,
nur daſs in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber
differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differen-
zierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich
eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos
zurückgegangen.

In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte
militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des
Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel
der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich voll-
zieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des
Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist
es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die
Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb
der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden
des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differen-
zierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung
einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die
einer andern auf einen andern stattfindet, sondern das Ganze
zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu
einer andern einer andern. Wie bei der homochronen Diffe-
renzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche
Funktionen verschlieſst, so hier eine Periode. Jener auf so
vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen
der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht
sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der
ist, daſs aus unterschiedsloser Organisation sich scharf ge-
sonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, daſs
aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich indivi-
duelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren:
so geht eben derselbe auch dahin, daſs das gleichförmige, von
Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben nie-
driger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander

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[134/0148] X 1. meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem be- liebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem andern versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder, daſs die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervor- ragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, daſs für jeden auftauchenden äuſseren Anspruch eine entsprechende Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hier- mit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Ein- zelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande, nur daſs in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differen- zierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos zurückgegangen. In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich voll- zieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differen- zierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die einer andern auf einen andern stattfindet, sondern das Ganze zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu einer andern einer andern. Wie bei der homochronen Diffe- renzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche Funktionen verschlieſst, so hier eine Periode. Jener auf so vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der ist, daſs aus unterschiedsloser Organisation sich scharf ge- sonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, daſs aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich indivi- duelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren: so geht eben derselbe auch dahin, daſs das gleichförmige, von Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben nie- driger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/148>, abgerufen am 02.05.2024.