Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. abgesetzte Perioden zerfällt, und dass überhaupt das Lebendes Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet, einseitiger, so doch in sich eine immer grössere Mannichfaltig- keit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durch- macht. Darauf weist schon die Thatsache hin, dass, je höher ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Ent- wicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unver- gleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr ver- schiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muss sich dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende Entwicklung -- sodass Goethe noch die Unsterblichkeit daraufhin postulierte, dass er hier keine Zeit zu vollkommner Entwicklung hätte --, von der man sogar oft die Vorstellung hat, dass die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vor- bedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten diese verschiedenen Überzeugungs- und Bethätigungsweisen die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen We- sens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische, eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat, deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite mensch- licher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Ver- teilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den Wechsel ausserberuflicher Interessen -- von dem der Ver- kehrskreise bis zu dem des Sports --, an die gegenseitige Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Über- zeugungen in mancher grossen politischen Laufbahn. Jede Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zu- wendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der mensch lichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet, entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Mass- verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Mass- regeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen; und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt, wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder dieser Tendenzen. Wenn der Einzelne nun befähigt ist, die Gesamtheit in sich aufzunehmen und zum Schnittpunkt der X 1. abgesetzte Perioden zerfällt, und daſs überhaupt das Lebendes Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet, einseitiger, so doch in sich eine immer gröſsere Mannichfaltig- keit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durch- macht. Darauf weist schon die Thatsache hin, daſs, je höher ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Ent- wicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unver- gleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr ver- schiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muſs sich dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende Entwicklung — sodaſs Goethe noch die Unsterblichkeit daraufhin postulierte, daſs er hier keine Zeit zu vollkommner Entwicklung hätte —, von der man sogar oft die Vorstellung hat, daſs die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vor- bedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten diese verschiedenen Überzeugungs- und Bethätigungsweisen die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen We- sens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische, eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat, deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite mensch- licher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Ver- teilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den Wechsel auſserberuflicher Interessen — von dem der Ver- kehrskreise bis zu dem des Sports —, an die gegenseitige Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Über- zeugungen in mancher groſsen politischen Laufbahn. Jede Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zu- wendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der mensch lichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet, entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Maſs- verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Maſs- regeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen; und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt, wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder dieser Tendenzen. 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X 1.
abgesetzte Perioden zerfällt, und daſs überhaupt das Leben
des Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet,
einseitiger, so doch in sich eine immer gröſsere Mannichfaltig-
keit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durch-
macht. Darauf weist schon die Thatsache hin, daſs, je höher
ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Ent-
wicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist
alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann
sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unver-
gleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr ver-
schiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muſs sich
dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren
wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer
Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende
Entwicklung — sodaſs Goethe noch die Unsterblichkeit
daraufhin postulierte, daſs er hier keine Zeit zu vollkommner
Entwicklung hätte —, von der man sogar oft die Vorstellung
hat, daſs die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über
jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vor-
bedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten
diese verschiedenen Überzeugungs- und Bethätigungsweisen
die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen We-
sens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung
möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im
Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen
Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich
erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische,
eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat,
deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite mensch-
licher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Ver-
teilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den
Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den
Wechsel auſserberuflicher Interessen — von dem der Ver-
kehrskreise bis zu dem des Sports —, an die gegenseitige
Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und
praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Über-
zeugungen in mancher groſsen politischen Laufbahn. Jede
Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zu-
wendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der mensch
lichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet,
entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Maſs-
verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für
Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Maſs-
regeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen;
und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt,
wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder
dieser Tendenzen. Wenn der Einzelne nun befähigt ist, die
Gesamtheit in sich aufzunehmen und zum Schnittpunkt der
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