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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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thätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles
geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der
Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegen-
setzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst,
wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer An-
strengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Mass
so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volks-
heere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes
ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder
jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermess-
lich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Ein-
zelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannich-
faltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung
bedürfen, -- wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften
dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch
des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den
gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt
zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn
hervorbrachte.

Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der
das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das An-
fangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach
der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im
körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht
selten, und es ist zunächst klar, dass, je niedriger und un-
differenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher
für einander vikariieren können; wenn man den Süsswasser-
polypen umkrämpelt, sodass sein innerer, bisher verdauender
Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet
demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen
statt, sodass die frühere Haut nun das verdauende Organ wird
u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell
ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere,
von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber
gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Ge-
hirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in re-
lativ hohem Masse vorhanden. Die teilweise Fusslähmung,
die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde
erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die apha-
sischen Störungen bei Verletzung des Gehirns lassen sich zum
Teil wieder gutmachen, indem offenbar andere Hirnpartieen
die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat
nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Ver-
lust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen
pflegen, dass sie die durch jenen Verlust behinderten Lebens-
zwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun
ganz, wenn innerhalb der niedrigsten Gesellschaft die Un-
differenziertheit ihrer Mitglieder es mit sich bringt, dass die

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thätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles
geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der
Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegen-
setzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst,
wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer An-
strengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Maſs
so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volks-
heere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes
ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder
jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermeſs-
lich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Ein-
zelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannich-
faltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung
bedürfen, — wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften
dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch
des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den
gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt
zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn
hervorbrachte.

Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der
das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das An-
fangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach
der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im
körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht
selten, und es ist zunächst klar, daſs, je niedriger und un-
differenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher
für einander vikariieren können; wenn man den Süſswasser-
polypen umkrämpelt, sodaſs sein innerer, bisher verdauender
Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet
demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen
statt, sodaſs die frühere Haut nun das verdauende Organ wird
u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell
ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere,
von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber
gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Ge-
hirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in re-
lativ hohem Maſse vorhanden. Die teilweise Fuſslähmung,
die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde
erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die apha-
sischen Störungen bei Verletzung des Gehirns lassen sich zum
Teil wieder gutmachen, indem offenbar andere Hirnpartieen
die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat
nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Ver-
lust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen
pflegen, daſs sie die durch jenen Verlust behinderten Lebens-
zwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun
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[133/0147] X 1. thätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegen- setzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst, wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer An- strengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Maſs so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volks- heere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermeſs- lich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Ein- zelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannich- faltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung bedürfen, — wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn hervorbrachte. Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das An- fangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht selten, und es ist zunächst klar, daſs, je niedriger und un- differenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher für einander vikariieren können; wenn man den Süſswasser- polypen umkrämpelt, sodaſs sein innerer, bisher verdauender Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen statt, sodaſs die frühere Haut nun das verdauende Organ wird u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere, von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Ge- hirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in re- lativ hohem Maſse vorhanden. Die teilweise Fuſslähmung, die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die apha- sischen Störungen bei Verletzung des Gehirns lassen sich zum Teil wieder gutmachen, indem offenbar andere Hirnpartieen die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Ver- lust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen pflegen, daſs sie die durch jenen Verlust behinderten Lebens- zwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun ganz, wenn innerhalb der niedrigsten Gesellschaft die Un- differenziertheit ihrer Mitglieder es mit sich bringt, daſs die

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/147>, abgerufen am 23.11.2024.