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Siemens, Werner von: Gesammelte Abhandlungen und Vorträge. Berlin, 1881.

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bei allen unter 200° liegenden Temperaturen latente Wärme auf-
nimmt.

Es liegt die Vermuthung nahe, dass Tellur und Kohle sich
ähnlich verhalten. Vielleicht werden spätere Untersuchungen er-
geben, dass auch alle die Elektricität nicht leitenden einfachen
Körper allotrope Zustände ihrer, für sich nicht existenzfähigen,
einfachen Radicale sind, d. i. im festen Zustande latente Wärme
enthalten und aus diesem Grunde Nichtleiter der Elektricität sind,
wie das amorphe Selen.

Es wird durch diese Theorie allerdings nichts direct erklärt,
wie es kommt, dass die auf der Grenze zwischen Metallen und
Metalloiden stehenden Körper, wie Selen, Tellur und Kohle die
Elektricität mit steigender Temperatur besser leiten, obschon die
Summe der enthaltenen Wärme grösser wird. Da aber beim Selen
mit steigender Temperatur offenbar die Kraft, mit welcher es die
in den festen Zustand mit übergeführte latente Wärme festhält,
sich vermindert, derart dass es bei 80° schon beginnt, einen Theil,
bei 200° den Rest derselben abzugeben, so kann man annehmen,
dass der elektrische Strom den ihm durch die latente Wärme ent-
gegengesetzten Widerstand um so leichter überwindet, je geringer
diese Kraft, mithin je höher die Temperatur ist1).


1) Der Ausdruck, dass den Körpern eine Kraft beiwohnt, mit der sie
die latente Wärme mehr oder weniger festhalten, ist nur bildlich zu nehmen.
Nach der mechanischen Wärmetheorie kann man sich die Erscheinung, dass
Körper bei bestimmten Temperaturen Wärme aufnehmen oder frei geben --
sei sie mit Aenderung des Aggregatzustandes oder der Dichtigkeit verbunden
oder nicht -- nur so auffassen, dass die Körperelemente in eine veränderte
Lage zu einander treten, zu deren Herbeiführung mehr oder weniger innere
Arbeit im positiven oder negativen Sinne verbraucht wird, die dann als ver-
schwindende oder auftretende freie Wärme zur Erscheinung kommt. Diesen
verschiedenen Molekularzuständen muss nun eine gewisse Stabilität zuge-
schrieben werden, die sich mit steigender Temperatur vermindert. Ist die
Temperatur erreicht, bei welcher der Zustand keine Stabilität mehr hat, so
tritt eine neue Gleichgewichtslage der Körperelemente ein, die wiederum
zwischen bestimmten Temperaturgrenzen stabil ist. Der metallische Zustand
eines festen Körpers wäre demnach derjenige, bei dessen Herbeiführung keine
Arbeit verbraucht ist -- ein Zustand, welcher nur bei den Metallen stabil
ist und welcher sie befähigt, die Elektricität zu leiten und zwar in der Weise,
dass der Leitungswiderstand der absoluten Temperatur proportional ist.
Die elektrolytische Leitung hätte man sich danach so vorzustellen,

bei allen unter 200° liegenden Temperaturen latente Wärme auf-
nimmt.

Es liegt die Vermuthung nahe, dass Tellur und Kohle sich
ähnlich verhalten. Vielleicht werden spätere Untersuchungen er-
geben, dass auch alle die Elektricität nicht leitenden einfachen
Körper allotrope Zustände ihrer, für sich nicht existenzfähigen,
einfachen Radicale sind, d. i. im festen Zustande latente Wärme
enthalten und aus diesem Grunde Nichtleiter der Elektricität sind,
wie das amorphe Selen.

Es wird durch diese Theorie allerdings nichts direct erklärt,
wie es kommt, dass die auf der Grenze zwischen Metallen und
Metalloiden stehenden Körper, wie Selen, Tellur und Kohle die
Elektricität mit steigender Temperatur besser leiten, obschon die
Summe der enthaltenen Wärme grösser wird. Da aber beim Selen
mit steigender Temperatur offenbar die Kraft, mit welcher es die
in den festen Zustand mit übergeführte latente Wärme festhält,
sich vermindert, derart dass es bei 80° schon beginnt, einen Theil,
bei 200° den Rest derselben abzugeben, so kann man annehmen,
dass der elektrische Strom den ihm durch die latente Wärme ent-
gegengesetzten Widerstand um so leichter überwindet, je geringer
diese Kraft, mithin je höher die Temperatur ist1).


1) Der Ausdruck, dass den Körpern eine Kraft beiwohnt, mit der sie
die latente Wärme mehr oder weniger festhalten, ist nur bildlich zu nehmen.
Nach der mechanischen Wärmetheorie kann man sich die Erscheinung, dass
Körper bei bestimmten Temperaturen Wärme aufnehmen oder frei geben —
sei sie mit Aenderung des Aggregatzustandes oder der Dichtigkeit verbunden
oder nicht — nur so auffassen, dass die Körperelemente in eine veränderte
Lage zu einander treten, zu deren Herbeiführung mehr oder weniger innere
Arbeit im positiven oder negativen Sinne verbraucht wird, die dann als ver-
schwindende oder auftretende freie Wärme zur Erscheinung kommt. Diesen
verschiedenen Molekularzuständen muss nun eine gewisse Stabilität zuge-
schrieben werden, die sich mit steigender Temperatur vermindert. Ist die
Temperatur erreicht, bei welcher der Zustand keine Stabilität mehr hat, so
tritt eine neue Gleichgewichtslage der Körperelemente ein, die wiederum
zwischen bestimmten Temperaturgrenzen stabil ist. Der metallische Zustand
eines festen Körpers wäre demnach derjenige, bei dessen Herbeiführung keine
Arbeit verbraucht ist — ein Zustand, welcher nur bei den Metallen stabil
ist und welcher sie befähigt, die Elektricität zu leiten und zwar in der Weise,
dass der Leitungswiderstand der absoluten Temperatur proportional ist.
Die elektrolytische Leitung hätte man sich danach so vorzustellen,
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[397/0419] bei allen unter 200° liegenden Temperaturen latente Wärme auf- nimmt. Es liegt die Vermuthung nahe, dass Tellur und Kohle sich ähnlich verhalten. Vielleicht werden spätere Untersuchungen er- geben, dass auch alle die Elektricität nicht leitenden einfachen Körper allotrope Zustände ihrer, für sich nicht existenzfähigen, einfachen Radicale sind, d. i. im festen Zustande latente Wärme enthalten und aus diesem Grunde Nichtleiter der Elektricität sind, wie das amorphe Selen. Es wird durch diese Theorie allerdings nichts direct erklärt, wie es kommt, dass die auf der Grenze zwischen Metallen und Metalloiden stehenden Körper, wie Selen, Tellur und Kohle die Elektricität mit steigender Temperatur besser leiten, obschon die Summe der enthaltenen Wärme grösser wird. Da aber beim Selen mit steigender Temperatur offenbar die Kraft, mit welcher es die in den festen Zustand mit übergeführte latente Wärme festhält, sich vermindert, derart dass es bei 80° schon beginnt, einen Theil, bei 200° den Rest derselben abzugeben, so kann man annehmen, dass der elektrische Strom den ihm durch die latente Wärme ent- gegengesetzten Widerstand um so leichter überwindet, je geringer diese Kraft, mithin je höher die Temperatur ist 1). 1) Der Ausdruck, dass den Körpern eine Kraft beiwohnt, mit der sie die latente Wärme mehr oder weniger festhalten, ist nur bildlich zu nehmen. Nach der mechanischen Wärmetheorie kann man sich die Erscheinung, dass Körper bei bestimmten Temperaturen Wärme aufnehmen oder frei geben — sei sie mit Aenderung des Aggregatzustandes oder der Dichtigkeit verbunden oder nicht — nur so auffassen, dass die Körperelemente in eine veränderte Lage zu einander treten, zu deren Herbeiführung mehr oder weniger innere Arbeit im positiven oder negativen Sinne verbraucht wird, die dann als ver- schwindende oder auftretende freie Wärme zur Erscheinung kommt. Diesen verschiedenen Molekularzuständen muss nun eine gewisse Stabilität zuge- schrieben werden, die sich mit steigender Temperatur vermindert. Ist die Temperatur erreicht, bei welcher der Zustand keine Stabilität mehr hat, so tritt eine neue Gleichgewichtslage der Körperelemente ein, die wiederum zwischen bestimmten Temperaturgrenzen stabil ist. Der metallische Zustand eines festen Körpers wäre demnach derjenige, bei dessen Herbeiführung keine Arbeit verbraucht ist — ein Zustand, welcher nur bei den Metallen stabil ist und welcher sie befähigt, die Elektricität zu leiten und zwar in der Weise, dass der Leitungswiderstand der absoluten Temperatur proportional ist. Die elektrolytische Leitung hätte man sich danach so vorzustellen,

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Zitationshilfe: Siemens, Werner von: Gesammelte Abhandlungen und Vorträge. Berlin, 1881, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siemens_abhandlungen_1881/419>, abgerufen am 23.11.2024.