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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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lien von seiner Nation gesehen habe. Orthodoxie in
Kirche und Staat schien seine Sache nicht zu seyn;
und er musste etwas Zutrauen zu mir gewonnen ha¬
ben, dass er mich ohne Zurückhaltung so tief in seine
Seele sehen liess. Er kannte die heutigen Staatsver¬
hältnisse ungewöhnlich gut und war in der alten Ge¬
schichte ziemlich zu Hause. Der alte Römerstolz
schien tief in seinem Innern zu sitzen. Er sprach
skoptisch vom Papste und schlecht von den Franzosen;
besonders hatte sein Hass den General Murat recht
herzlich gefasst, von dessen schamlosen Erpressungen
er zähneknirschend sprach und der schon durch sei¬
nen Mameluckennamen allen Kredit bey ihm verloren
hatte. Dieser Otrikolaner war seit langer Zeit der
erste Mann, der meinen Spaziergang richtig begriff,
und meinte, dass sein Vaterland auch jetzt noch ihn
verdiene, so tief es auch gesunken sey. Wir schüt¬
telten einander freundschaftlich die Hände, und ich
ging mit der folgenden Morgendämmerung den Berg
hinunter, neben den Ruinen der alten Stadt vorbey,
auf die Tiber zu.

Bis jetzt war es Vergnügen gewesen auch im Kir¬
chenstaate zu reisen. Jenseits der Berge vor und hin¬
ter Ankona, bey Foligno und Spoleto und Terni und
Narni war die Kultur doch noch reich und schön, und
in den Bergen waren die Scenen romantisch gross und
zuweilen erhaben und furchtbar. Man vergass leicht
die Gefahr, die sich finden konnte. Von der Tiber
und Borghetto an wird alles wüst und öde. Die Be¬
völkerung wird noch dünner und die Kultur mit je¬
dem Schritte nachlässiger. Civita Castellana gilt für

lien von seiner Nation gesehen habe. Orthodoxie in
Kirche und Staat schien seine Sache nicht zu seyn;
und er muſste etwas Zutrauen zu mir gewonnen ha¬
ben, daſs er mich ohne Zurückhaltung so tief in seine
Seele sehen lieſs. Er kannte die heutigen Staatsver¬
hältnisse ungewöhnlich gut und war in der alten Ge¬
schichte ziemlich zu Hause. Der alte Römerstolz
schien tief in seinem Innern zu sitzen. Er sprach
skoptisch vom Papste und schlecht von den Franzosen;
besonders hatte sein Haſs den General Murat recht
herzlich gefaſst, von dessen schamlosen Erpressungen
er zähneknirschend sprach und der schon durch sei¬
nen Mameluckennamen allen Kredit bey ihm verloren
hatte. Dieser Otrikolaner war seit langer Zeit der
erste Mann, der meinen Spaziergang richtig begriff,
und meinte, daſs sein Vaterland auch jetzt noch ihn
verdiene, so tief es auch gesunken sey. Wir schüt¬
telten einander freundschaftlich die Hände, und ich
ging mit der folgenden Morgendämmerung den Berg
hinunter, neben den Ruinen der alten Stadt vorbey,
auf die Tiber zu.

Bis jetzt war es Vergnügen gewesen auch im Kir¬
chenstaate zu reisen. Jenseits der Berge vor und hin¬
ter Ankona, bey Foligno und Spoleto und Terni und
Narni war die Kultur doch noch reich und schön, und
in den Bergen waren die Scenen romantisch groſs und
zuweilen erhaben und furchtbar. Man vergaſs leicht
die Gefahr, die sich finden konnte. Von der Tiber
und Borghetto an wird alles wüst und öde. Die Be¬
völkerung wird noch dünner und die Kultur mit je¬
dem Schritte nachlässiger. Civita Castellana gilt für

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[153/0179] lien von seiner Nation gesehen habe. Orthodoxie in Kirche und Staat schien seine Sache nicht zu seyn; und er muſste etwas Zutrauen zu mir gewonnen ha¬ ben, daſs er mich ohne Zurückhaltung so tief in seine Seele sehen lieſs. Er kannte die heutigen Staatsver¬ hältnisse ungewöhnlich gut und war in der alten Ge¬ schichte ziemlich zu Hause. Der alte Römerstolz schien tief in seinem Innern zu sitzen. Er sprach skoptisch vom Papste und schlecht von den Franzosen; besonders hatte sein Haſs den General Murat recht herzlich gefaſst, von dessen schamlosen Erpressungen er zähneknirschend sprach und der schon durch sei¬ nen Mameluckennamen allen Kredit bey ihm verloren hatte. Dieser Otrikolaner war seit langer Zeit der erste Mann, der meinen Spaziergang richtig begriff, und meinte, daſs sein Vaterland auch jetzt noch ihn verdiene, so tief es auch gesunken sey. Wir schüt¬ telten einander freundschaftlich die Hände, und ich ging mit der folgenden Morgendämmerung den Berg hinunter, neben den Ruinen der alten Stadt vorbey, auf die Tiber zu. Bis jetzt war es Vergnügen gewesen auch im Kir¬ chenstaate zu reisen. Jenseits der Berge vor und hin¬ ter Ankona, bey Foligno und Spoleto und Terni und Narni war die Kultur doch noch reich und schön, und in den Bergen waren die Scenen romantisch groſs und zuweilen erhaben und furchtbar. Man vergaſs leicht die Gefahr, die sich finden konnte. Von der Tiber und Borghetto an wird alles wüst und öde. Die Be¬ völkerung wird noch dünner und die Kultur mit je¬ dem Schritte nachlässiger. Civita Castellana gilt für

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/179>, abgerufen am 29.11.2024.