Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
pse_078.001
III pse_078.002
DICHTUNG ALS MENSCHLICHE SCHÖPFUNG
pse_078.003
Die Persönlichkeit des Dichters

pse_078.004
Es könnte unmodern, um nicht zu sagen unzeitgemäß pse_078.005
erscheinen, in einer Poetik vom Dichter und gar von seiner pse_078.006
Persönlichkeit zu sprechen. Wir werden es auch nur kurz tun. pse_078.007
Aber wir müssen auch darauf unseren Blick werfen, wenn wir pse_078.008
Dichtung in ihrem Wesen erfassen und sehen wollen. Daher pse_078.009
interessiert uns hier nicht die Frage, wie man etwa zu einer pse_078.010
Dichtung den unbekannten Dichter findet, also zum Nibelungenlied pse_078.011
den Dichter, oder wie man alle Einzelheiten zu pse_078.012
einer Dichterbiographie zusammentragen kann. Sondern: pse_078.013
jede Dichtung ist Menschenwerk, und um dieses Menschliche pse_078.014
am Werk zu erkennen, müssen wir auch einen Augenblick auf pse_078.015
die Persönlichkeit des Dichters von diesem Blickpunkt aus pse_078.016
achten. Denn daß Dichtungen sich auch im Menschlichen pse_078.017
unterscheiden, können ein paar einfache Überlegungen pse_078.018
zeigen. Die Versuche der Faustdramatisierungen in der pse_078.019
Sturm- und Drangzeit (Maler Müller und Goethe) unterscheiden pse_078.020
sich bis in die Form hinein auch durch die Art, wie pse_078.021
die beiden Dichter die Sache angepackt haben. Die augenfälligen pse_078.022
Unterschiede in der Art, wie Kleist und Stifter pse_078.023
erzählen, sind nicht bloß durch Stoff, Zeit, Raum usw. pse_078.024
erklärbar, sondern offenbaren menschliche Unterschiede. pse_078.025
Trotz aller Eigenart moderner Lyrik, die dazu geführt hat, pse_078.026
sie in ihrer Struktur stark von der des späten 18. und des pse_078.027
frühen 19. Jahrhunderts abzuheben, kann man doch Dichterpersönlichkeiten pse_078.028
auch an der Gestaltung, am Rhythmus, an pse_078.029
den Bildern unterscheiden: wieder wirkt da etwas Menschliches pse_078.030
hinein.

pse_078.031
Wir verweilen also beim Dichter, nicht als Menschen, den pse_078.032
man dokumentarisch feststellen kann, sondern als Schöpfer pse_078.033
von Kunstwerken. Aber auch in diesem engen Bereich treffen

pse_078.001
III pse_078.002
DICHTUNG ALS MENSCHLICHE SCHÖPFUNG
pse_078.003
Die Persönlichkeit des Dichters

pse_078.004
Es könnte unmodern, um nicht zu sagen unzeitgemäß pse_078.005
erscheinen, in einer Poetik vom Dichter und gar von seiner pse_078.006
Persönlichkeit zu sprechen. Wir werden es auch nur kurz tun. pse_078.007
Aber wir müssen auch darauf unseren Blick werfen, wenn wir pse_078.008
Dichtung in ihrem Wesen erfassen und sehen wollen. Daher pse_078.009
interessiert uns hier nicht die Frage, wie man etwa zu einer pse_078.010
Dichtung den unbekannten Dichter findet, also zum Nibelungenlied pse_078.011
den Dichter, oder wie man alle Einzelheiten zu pse_078.012
einer Dichterbiographie zusammentragen kann. Sondern: pse_078.013
jede Dichtung ist Menschenwerk, und um dieses Menschliche pse_078.014
am Werk zu erkennen, müssen wir auch einen Augenblick auf pse_078.015
die Persönlichkeit des Dichters von diesem Blickpunkt aus pse_078.016
achten. Denn daß Dichtungen sich auch im Menschlichen pse_078.017
unterscheiden, können ein paar einfache Überlegungen pse_078.018
zeigen. Die Versuche der Faustdramatisierungen in der pse_078.019
Sturm- und Drangzeit (Maler Müller und Goethe) unterscheiden pse_078.020
sich bis in die Form hinein auch durch die Art, wie pse_078.021
die beiden Dichter die Sache angepackt haben. Die augenfälligen pse_078.022
Unterschiede in der Art, wie Kleist und Stifter pse_078.023
erzählen, sind nicht bloß durch Stoff, Zeit, Raum usw. pse_078.024
erklärbar, sondern offenbaren menschliche Unterschiede. pse_078.025
Trotz aller Eigenart moderner Lyrik, die dazu geführt hat, pse_078.026
sie in ihrer Struktur stark von der des späten 18. und des pse_078.027
frühen 19. Jahrhunderts abzuheben, kann man doch Dichterpersönlichkeiten pse_078.028
auch an der Gestaltung, am Rhythmus, an pse_078.029
den Bildern unterscheiden: wieder wirkt da etwas Menschliches pse_078.030
hinein.

pse_078.031
Wir verweilen also beim Dichter, nicht als Menschen, den pse_078.032
man dokumentarisch feststellen kann, sondern als Schöpfer pse_078.033
von Kunstwerken. Aber auch in diesem engen Bereich treffen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0094" n="E78"/>
        <div n="2">
          <lb n="pse_078.001"/>
          <head> <hi rendition="#c">III <lb n="pse_078.002"/> <hi rendition="#g">DICHTUNG ALS MENSCHLICHE SCHÖPFUNG</hi></hi> </head>
          <lb n="pse_078.003"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Die Persönlichkeit des Dichters</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_078.004"/>
Es könnte unmodern, um nicht zu sagen unzeitgemäß <lb n="pse_078.005"/>
erscheinen, in einer Poetik vom Dichter und gar von seiner <lb n="pse_078.006"/>
Persönlichkeit zu sprechen. Wir werden es auch nur kurz tun. <lb n="pse_078.007"/>
Aber wir müssen auch darauf unseren Blick werfen, wenn wir <lb n="pse_078.008"/>
Dichtung in ihrem Wesen erfassen und sehen wollen. Daher <lb n="pse_078.009"/>
interessiert uns hier nicht die Frage, wie man etwa zu einer <lb n="pse_078.010"/>
Dichtung den unbekannten Dichter findet, also zum Nibelungenlied <lb n="pse_078.011"/>
den Dichter, oder wie man alle Einzelheiten zu <lb n="pse_078.012"/>
einer Dichterbiographie zusammentragen kann. Sondern: <lb n="pse_078.013"/>
jede Dichtung ist Menschenwerk, und um dieses Menschliche <lb n="pse_078.014"/>
am Werk zu erkennen, müssen wir auch einen Augenblick auf <lb n="pse_078.015"/>
die Persönlichkeit des Dichters von diesem Blickpunkt aus <lb n="pse_078.016"/>
achten. Denn daß Dichtungen sich auch im Menschlichen <lb n="pse_078.017"/>
unterscheiden, können ein paar einfache Überlegungen <lb n="pse_078.018"/>
zeigen. Die Versuche der Faustdramatisierungen in der <lb n="pse_078.019"/>
Sturm- und Drangzeit (Maler Müller und Goethe) unterscheiden <lb n="pse_078.020"/>
sich bis in die Form hinein auch durch die Art, wie <lb n="pse_078.021"/>
die beiden Dichter die Sache angepackt haben. Die augenfälligen <lb n="pse_078.022"/>
Unterschiede in der Art, wie Kleist und Stifter <lb n="pse_078.023"/>
erzählen, sind nicht bloß durch Stoff, Zeit, Raum usw. <lb n="pse_078.024"/>
erklärbar, sondern offenbaren menschliche Unterschiede. <lb n="pse_078.025"/>
Trotz aller Eigenart moderner Lyrik, die dazu geführt hat, <lb n="pse_078.026"/>
sie in ihrer Struktur stark von der des späten 18. und des <lb n="pse_078.027"/>
frühen 19. Jahrhunderts abzuheben, kann man doch Dichterpersönlichkeiten <lb n="pse_078.028"/>
auch an der Gestaltung, am Rhythmus, an <lb n="pse_078.029"/>
den Bildern unterscheiden: wieder wirkt da etwas Menschliches <lb n="pse_078.030"/>
hinein.</p>
            <p><lb n="pse_078.031"/>
Wir verweilen also beim Dichter, nicht als Menschen, den <lb n="pse_078.032"/>
man dokumentarisch feststellen kann, sondern als Schöpfer <lb n="pse_078.033"/>
von Kunstwerken. Aber auch in diesem engen Bereich treffen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E78/0094] pse_078.001 III pse_078.002 DICHTUNG ALS MENSCHLICHE SCHÖPFUNG pse_078.003 Die Persönlichkeit des Dichters pse_078.004 Es könnte unmodern, um nicht zu sagen unzeitgemäß pse_078.005 erscheinen, in einer Poetik vom Dichter und gar von seiner pse_078.006 Persönlichkeit zu sprechen. Wir werden es auch nur kurz tun. pse_078.007 Aber wir müssen auch darauf unseren Blick werfen, wenn wir pse_078.008 Dichtung in ihrem Wesen erfassen und sehen wollen. Daher pse_078.009 interessiert uns hier nicht die Frage, wie man etwa zu einer pse_078.010 Dichtung den unbekannten Dichter findet, also zum Nibelungenlied pse_078.011 den Dichter, oder wie man alle Einzelheiten zu pse_078.012 einer Dichterbiographie zusammentragen kann. Sondern: pse_078.013 jede Dichtung ist Menschenwerk, und um dieses Menschliche pse_078.014 am Werk zu erkennen, müssen wir auch einen Augenblick auf pse_078.015 die Persönlichkeit des Dichters von diesem Blickpunkt aus pse_078.016 achten. Denn daß Dichtungen sich auch im Menschlichen pse_078.017 unterscheiden, können ein paar einfache Überlegungen pse_078.018 zeigen. Die Versuche der Faustdramatisierungen in der pse_078.019 Sturm- und Drangzeit (Maler Müller und Goethe) unterscheiden pse_078.020 sich bis in die Form hinein auch durch die Art, wie pse_078.021 die beiden Dichter die Sache angepackt haben. Die augenfälligen pse_078.022 Unterschiede in der Art, wie Kleist und Stifter pse_078.023 erzählen, sind nicht bloß durch Stoff, Zeit, Raum usw. pse_078.024 erklärbar, sondern offenbaren menschliche Unterschiede. pse_078.025 Trotz aller Eigenart moderner Lyrik, die dazu geführt hat, pse_078.026 sie in ihrer Struktur stark von der des späten 18. und des pse_078.027 frühen 19. Jahrhunderts abzuheben, kann man doch Dichterpersönlichkeiten pse_078.028 auch an der Gestaltung, am Rhythmus, an pse_078.029 den Bildern unterscheiden: wieder wirkt da etwas Menschliches pse_078.030 hinein. pse_078.031 Wir verweilen also beim Dichter, nicht als Menschen, den pse_078.032 man dokumentarisch feststellen kann, sondern als Schöpfer pse_078.033 von Kunstwerken. Aber auch in diesem engen Bereich treffen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/94
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/94>, abgerufen am 23.11.2024.