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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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wir auf einen Wandel in den Auffassungen vom Dichter. Vom pse_079.002
Hellenismus bis zum Ende des Rokoko in der zweiten Hälfte pse_079.003
des 18. Jahrhunderts sieht man im Dichter vor allem einen pse_079.004
gelehrten Könner, von Geschmack und Wissen geleitet. Mit pse_079.005
Young in England, mit Rousseau in Frankreich und mit pse_079.006
Goethe und Herder und den Dichtern um diese beginnt eine pse_079.007
völlig andere Auffassung, allerdings nicht das erste Mal in der pse_079.008
Geschichte der antiken und abendländischen Dichtung: pse_079.009
Dichten ist innerer Schöpferdrang, ist Inspiration, der Dichter pse_079.010
ein Seher, ein Begeisterter. Diese Auffassung wird in der pse_079.011
Romantik besonders ausgebaut und wirkt noch bis zu George pse_079.012
und Rilke weiter. Aber schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts pse_079.013
bereitet sich eine neuerliche Änderung vor, vor allem mit pse_079.014
Baudelaire (Fleurs du mal, 1857): der Dichter ist wieder der pse_079.015
große Könner, ein Feinmechaniker. Besonders Benn in der pse_079.016
Theorie und etwa Thomas Mann in der Praxis betonen das. pse_079.017
Aber geschichtlich gehen diese Unterschiede nicht glatt auf: pse_079.018
der Dichter als gottbegnadeter Seher, das war nicht nur die pse_079.019
Meinung der Goethezeit (Hölderlin), sondern auch bei den pse_079.020
alten Griechen und Römern, im Mittelalter und auch im pse_079.021
Barock finden wir sie. Und umgekehrt haben Dante, Calderon, pse_079.022
Goethe und Rilke sehr wohl um die strengen Gesetze und pse_079.023
die Arbeitsforderungen in ihrer Kunst gewußt.

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Aber der Gesamtblick auf die großen Dichter, auf ihre pse_079.025
Werke, ihre Äußerungen dazu und auch auf das, was die pse_079.026
Forschung dazu beigetragen hat, läßt doch eine allgemeine pse_079.027
Kennzeichnung der Merkmale zu, die einen Dichter auszeichnen. pse_079.028
Schöpfertum ist ein zu umfassender Ausdruck; er pse_079.029
gilt nicht nur für alle großen Künstler, sondern auch für pse_079.030
Philosophen, Naturforscher, Staatengründer und Religionsstifter. pse_079.031
Aber alle diese Menschen sind nichts Außernormales pse_079.032
oder gar Abnormales, eher etwas Übernormales, Steigerungen pse_079.033
menschlicher Anlagen und Kräfte in besonderem Maße. pse_079.034
Darin liegt der Bezug zu Geisteskrankheiten, die uns heute pse_079.035
auch als Überentwicklungen bestimmter Angelegenheiten im pse_079.036
Menschen erscheinen. Das ist die einzige Beziehung zwischen pse_079.037
Schöpfertum und Geisteskrankheit, um die wir uns in einer pse_079.038
Poetik zu kümmern haben. Der Dichter ist ein Künstler.

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die Arbeitsforderungen in ihrer Kunst gewußt.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/95>, abgerufen am 23.11.2024.