pse_066.001 aus, wenn man sie als solche erkennt. Aber Enttäuschung pse_066.002 zu erleben, wenn einer erfährt, daß es eine Brigitte pse_066.003 in der außerdichterischen Wirklichkeit nicht gibt, wäre so pse_066.004 töricht, wie darüber enttäuscht zu sein, daß der Apfel auf pse_066.005 einem Gemälde nicht genießbar ist. Die Welt einer Dichtung pse_066.006 ist nicht eine, in der wir leben sollen, sondern eine, die wir pse_066.007 schauen sollen, im Sinne der ästhetischen Wahrnehmung.
pse_066.008 Die Verschiedenartigkeit von dichterischer und außerdichterischer pse_066.009 Welt, die In-sich-Gerundetheit der dichterischen pse_066.010 Welt, also einer Dichtung, und die Tatsache, daß trotzdem pse_066.011 Dichtung als Sprachkunst zur außerdichterischen in dem Bezug pse_066.012 steht, daß diese jene fundiert: das muß für das folgende pse_066.013 festgehalten werden. Zunächst klären sich nun zwei bekannte pse_066.014 Fachausdrücke: Stoff einer Dichtung ist das außerdichterische pse_066.015 Rohmaterial, z. B. die Geschichte Wallensteins für Schillers pse_066.016 Drama. Wie aber die Handlung, das Ereignis in der Dichtung pse_066.017 durchgeführt ist, also das, was man in einer sogenannten Inhaltsangabe pse_066.018 greift, nennen wir die Fabel. Das ist also bereits pse_066.019 gestalteter Stoff. Woher der Dichter den Stoff nimmt, also pse_066.020 welche außerdichterische Wirklichkeit ihn zur Schöpfung pse_066.021 anregt, ist gleichgültig. Es können die Natur und ihre Bereiche pse_066.022 sein, Menschen und Menschenschicksale. Aber auch pse_066.023 ein anderes Kunstwerk kann Stoff für Dichtung sein: man pse_066.024 denke an die Musikwerke im "Doktor Faustus", an Bildwerke pse_066.025 als Anregungen für Lyrik. Aber es scheint, daß solche pse_066.026 Kunstwerke als Stoff für Dichtung wohl deshalb nicht sehr pse_066.027 günstig sind, weil sie ja selbst schon künstlerische Gestaltung pse_066.028 sind, also durch Dichtung neuerlich, freilich anders, geformt pse_066.029 werden. Beim Dinggedicht werden wir noch mehr davon pse_066.030 hören. Hier bietet sich ein erster Anlaß, auf die Geschichtsdichtung pse_066.031 hinzuweisen, also auf Dichtung, deren Stoff geschichtliche pse_066.032 Vorgänge sind. Man hat über Geschichtsdichtung pse_066.033 oft den Stab gebrochen, und das sicher mit Recht, wo pse_066.034 die Sachdarstellung eines geschichtlichen Ereignisses bloß in pse_066.035 schöne Worte und phantasiemäßige Verbrämungen gekleidet pse_066.036 wird. Aber warum sollte dieser "Stoff" nicht auch Anregung pse_066.037 zu einer dichterischen Welt geben? Warum nicht pse_066.038 etwa überhaupt geschichtliches Werden als solches, wie in
pse_066.001 aus, wenn man sie als solche erkennt. Aber Enttäuschung pse_066.002 zu erleben, wenn einer erfährt, daß es eine Brigitte pse_066.003 in der außerdichterischen Wirklichkeit nicht gibt, wäre so pse_066.004 töricht, wie darüber enttäuscht zu sein, daß der Apfel auf pse_066.005 einem Gemälde nicht genießbar ist. Die Welt einer Dichtung pse_066.006 ist nicht eine, in der wir leben sollen, sondern eine, die wir pse_066.007 schauen sollen, im Sinne der ästhetischen Wahrnehmung.
pse_066.008 Die Verschiedenartigkeit von dichterischer und außerdichterischer pse_066.009 Welt, die In-sich-Gerundetheit der dichterischen pse_066.010 Welt, also einer Dichtung, und die Tatsache, daß trotzdem pse_066.011 Dichtung als Sprachkunst zur außerdichterischen in dem Bezug pse_066.012 steht, daß diese jene fundiert: das muß für das folgende pse_066.013 festgehalten werden. Zunächst klären sich nun zwei bekannte pse_066.014 Fachausdrücke: Stoff einer Dichtung ist das außerdichterische pse_066.015 Rohmaterial, z. B. die Geschichte Wallensteins für Schillers pse_066.016 Drama. Wie aber die Handlung, das Ereignis in der Dichtung pse_066.017 durchgeführt ist, also das, was man in einer sogenannten Inhaltsangabe pse_066.018 greift, nennen wir die Fabel. Das ist also bereits pse_066.019 gestalteter Stoff. Woher der Dichter den Stoff nimmt, also pse_066.020 welche außerdichterische Wirklichkeit ihn zur Schöpfung pse_066.021 anregt, ist gleichgültig. Es können die Natur und ihre Bereiche pse_066.022 sein, Menschen und Menschenschicksale. Aber auch pse_066.023 ein anderes Kunstwerk kann Stoff für Dichtung sein: man pse_066.024 denke an die Musikwerke im »Doktor Faustus«, an Bildwerke pse_066.025 als Anregungen für Lyrik. Aber es scheint, daß solche pse_066.026 Kunstwerke als Stoff für Dichtung wohl deshalb nicht sehr pse_066.027 günstig sind, weil sie ja selbst schon künstlerische Gestaltung pse_066.028 sind, also durch Dichtung neuerlich, freilich anders, geformt pse_066.029 werden. Beim Dinggedicht werden wir noch mehr davon pse_066.030 hören. Hier bietet sich ein erster Anlaß, auf die Geschichtsdichtung pse_066.031 hinzuweisen, also auf Dichtung, deren Stoff geschichtliche pse_066.032 Vorgänge sind. Man hat über Geschichtsdichtung pse_066.033 oft den Stab gebrochen, und das sicher mit Recht, wo pse_066.034 die Sachdarstellung eines geschichtlichen Ereignisses bloß in pse_066.035 schöne Worte und phantasiemäßige Verbrämungen gekleidet pse_066.036 wird. Aber warum sollte dieser »Stoff« nicht auch Anregung pse_066.037 zu einer dichterischen Welt geben? Warum nicht pse_066.038 etwa überhaupt geschichtliches Werden als solches, wie in
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in der außerdichterischen Wirklichkeit nicht gibt, wäre so pse_066.004
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Welt, also einer Dichtung, und die Tatsache, daß trotzdem pse_066.011
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ein anderes Kunstwerk kann Stoff für Dichtung sein: man pse_066.024
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Kunstwerke als Stoff für Dichtung wohl deshalb nicht sehr pse_066.027
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zu einer dichterischen Welt geben? Warum nicht pse_066.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/82>, abgerufen am 24.11.2024.
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