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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Innere lebendig. Auch geht es nicht darum, den einen Begriff pse_056.002
der Wahrheit in der Dichtung zu finden. Letztes, Ewiges pse_056.003
spiegelt sich in den dichterischen Gebilden in mannigfachster pse_056.004
Weise je nach den Gattungen und Arten und ihren Formgesetzlichkeiten, pse_056.005
je nach der Persönlichkeit des Schöpfers, je pse_056.006
nach den geschichtlichen Lagen. Gewiß vermag die Dichtung, pse_056.007
eben als Kunst, Letztes in ihrer Gebildehaftigkeit, in ihrem pse_056.008
jeweiligen Dasein ahnen zu lassen, es im wahrsten Sinn zu entdecken. pse_056.009
Und wenn Heidegger in bezug auf das griechische pse_056.010
Wort aletheia von der Wahrheit als dem Unverborgenen pse_056.011
spricht, so ist das richtig, darf aber nicht zu eng mit Sprache pse_056.012
und Dichtung als den, wie Heidegger manchmal darstellt, pse_056.013
einzigen ent-bergenden Kräften in Zusammenhang gebracht pse_056.014
werden. In der Sprache, wie sie eben zu ihren Wortschöpfungen pse_056.015
kam, ist immer ein Blick ins Wesenhafte aufbewahrt, aber pse_056.016
es gibt viele Blicke aus vielen sehr verschiedenartigen Ausgangspunkten pse_056.017
in das Innerste, und in fortgeschrittenen Zivilisationslagen pse_056.018
ist es nicht mehr leicht, die entbergende Kraft pse_056.019
der Sprache selber wieder freizumachen von all dem, was pse_056.020
sie eher zu einer verhüllenden macht. Auch gibt es andere pse_056.021
Möglichkeiten als bloß die Dichtung, Wahrheit zu finden pse_056.022
und darzustellen. Bleiben wir beim Wort Goethes: "Der Dichtung pse_056.023
Schleier aus der Hand der Wahrheit." Im tiefsten offenbart pse_056.024
eben jede Dichtung Letztes, Wesenhaftes, Ewiges. Aber pse_056.025
in ganz verschiedener Weise ist der Schleier der Gestalt fähig, pse_056.026
dieses Letzte erscheinen zu lassen. Im Schleier hat der Dichter pse_056.027
das Sinnbild für die dichterische Gebildehaftigkeit geschaffen, pse_056.028
durch die das Wesen durchscheint. Aber wie es erscheint, pse_056.029
hängt von der Beschaffenheit des Schleiers ab. Noch ein pse_056.030
anderes Bild drängt sich auf. Faust wendet sich bei Sonnenaufgang pse_056.031
geblendet vom strahlenden Gestirn ab, ihm ist es pse_056.032
dann gegeben im Lichterspiel. Dieses Lichterspiel läßt uns pse_056.033
die Sonne ahnen: "Am farbigen Abglanz haben wir das pse_056.034
Leben." Wir dürfen von der Dichtung keine theoretische pse_056.035
Wahrheit verlangen, keine nackte Übereinstimmung mit dem pse_056.036
real Seienden, keine Beschränkung der Fabulierlust im Märchen. pse_056.037
Aber gerade beim Märchen greifen wir leichter, worin pse_056.038
wir dichterische Wahrheit finden: In der Übereinstimmung

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Innere lebendig. Auch geht es nicht darum, den einen Begriff pse_056.002
der Wahrheit in der Dichtung zu finden. Letztes, Ewiges pse_056.003
spiegelt sich in den dichterischen Gebilden in mannigfachster pse_056.004
Weise je nach den Gattungen und Arten und ihren Formgesetzlichkeiten, pse_056.005
je nach der Persönlichkeit des Schöpfers, je pse_056.006
nach den geschichtlichen Lagen. Gewiß vermag die Dichtung, pse_056.007
eben als Kunst, Letztes in ihrer Gebildehaftigkeit, in ihrem pse_056.008
jeweiligen Dasein ahnen zu lassen, es im wahrsten Sinn zu entdecken. pse_056.009
Und wenn Heidegger in bezug auf das griechische pse_056.010
Wort aletheia von der Wahrheit als dem Unverborgenen pse_056.011
spricht, so ist das richtig, darf aber nicht zu eng mit Sprache pse_056.012
und Dichtung als den, wie Heidegger manchmal darstellt, pse_056.013
einzigen ent-bergenden Kräften in Zusammenhang gebracht pse_056.014
werden. In der Sprache, wie sie eben zu ihren Wortschöpfungen pse_056.015
kam, ist immer ein Blick ins Wesenhafte aufbewahrt, aber pse_056.016
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in das Innerste, und in fortgeschrittenen Zivilisationslagen pse_056.018
ist es nicht mehr leicht, die entbergende Kraft pse_056.019
der Sprache selber wieder freizumachen von all dem, was pse_056.020
sie eher zu einer verhüllenden macht. Auch gibt es andere pse_056.021
Möglichkeiten als bloß die Dichtung, Wahrheit zu finden pse_056.022
und darzustellen. Bleiben wir beim Wort Goethes: »Der Dichtung pse_056.023
Schleier aus der Hand der Wahrheit.« Im tiefsten offenbart pse_056.024
eben jede Dichtung Letztes, Wesenhaftes, Ewiges. Aber pse_056.025
in ganz verschiedener Weise ist der Schleier der Gestalt fähig, pse_056.026
dieses Letzte erscheinen zu lassen. Im Schleier hat der Dichter pse_056.027
das Sinnbild für die dichterische Gebildehaftigkeit geschaffen, pse_056.028
durch die das Wesen durchscheint. Aber wie es erscheint, pse_056.029
hängt von der Beschaffenheit des Schleiers ab. Noch ein pse_056.030
anderes Bild drängt sich auf. Faust wendet sich bei Sonnenaufgang pse_056.031
geblendet vom strahlenden Gestirn ab, ihm ist es pse_056.032
dann gegeben im Lichterspiel. Dieses Lichterspiel läßt uns pse_056.033
die Sonne ahnen: »Am farbigen Abglanz haben wir das pse_056.034
Leben.« Wir dürfen von der Dichtung keine theoretische pse_056.035
Wahrheit verlangen, keine nackte Übereinstimmung mit dem pse_056.036
real Seienden, keine Beschränkung der Fabulierlust im Märchen. pse_056.037
Aber gerade beim Märchen greifen wir leichter, worin pse_056.038
wir dichterische Wahrheit finden: In der Übereinstimmung

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/72>, abgerufen am 25.11.2024.