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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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hier aus Entscheidenderes gesagt werden. Einige allgemeine pse_055.002
Feststellungen können getroffen werden. Dichtung muß zunächst pse_055.003
immer den Wertmaßstäben entsprechen, die an eine pse_055.004
Dichtung in erster Linie gelegt werden müssen. Ob sie auf pse_055.005
theologischen Einsichten und religiösem Glauben gründet, pse_055.006
ist eine für das Wesen der betreffenden Dichtung sekundäre pse_055.007
Frage. Ob Gertrud Le Forts Roman "Der Kranz der Engel" pse_055.008
der katholischen Dogmatik entspricht, ist für den dichterischen pse_055.009
Wert des Werks nicht maßgebend. Umgekehrt versuchten pse_055.010
immer wieder Gruppen von religiös betroffenen Menschen, pse_055.011
religiöse Erneuerung in dichterischer Form zu bieten. Hier pse_055.012
werden die Kunstformen der Dichtung Mittel zum Zweck, pse_055.013
und damit ist schon der Weg von der reinen und echten pse_055.014
Dichtung weg beschritten. Die Religion verehrt das Wesenhafte pse_055.015
und Ewige, die Dichtung aber macht es in sinnbildlicher pse_055.016
Gestaltung als wirkende Urkraft lebendig.

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Dichtung und Metaphysik. Hier geht es vor allem um die pse_055.018
Frage, ob die Dichtung so wie ein metaphysisches System pse_055.019
Wahrheit biete und beanspruche. Wieder muß auf den fundamentalen pse_055.020
Unterschied von Dichtung gegenüber denkerischen pse_055.021
Werken hingewiesen werden. Metaphysik denkt das Wesenhafte, pse_055.022
Dichtung gestaltet es. "Ein ewiger Streit besteht seit pse_055.023
Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der pse_055.024
Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich pse_055.025
ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des pse_055.026
Gedankens ist nie am Ende, aber das Gebilde des Dichters ist pse_055.027
vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der pse_055.028
Symbole. Wir empfangen aus seiner Hand ein gegliedertes pse_055.029
Gefüge der Welt, gereinigt von allem Faserwerk philosophischer pse_055.030
Begriffe" (Curtius). Und Hofmannsthal sagt: "Wir pse_055.031
vermögen nur die Gestalt zu lieben, und wer die Ideen zu pse_055.032
lieben vorgibt, der liebt sie immer als die Gestalt. Die Gestalt pse_055.033
erledigt das Problem, sie beantwortet das Unbeantwortbare." pse_055.034
Dichtung ist nicht Philosophie, auch schon deshalb nicht, weil pse_055.035
viele Gedichte gar keine philosophischen Probleme stellen, pse_055.036
das "Heidenröslein" und "Wanderers Nachtlied" haben nichts pse_055.037
mit Philosophie zu tun, aber doch öffnet sich in ihnen als pse_055.038
einem dichterischen Gebilde Tieferes, wird das menschliche

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Gestaltung als wirkende Urkraft lebendig.

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Dichtung und Metaphysik. Hier geht es vor allem um die pse_055.018
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Wahrheit biete und beanspruche. Wieder muß auf den fundamentalen pse_055.020
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Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der pse_055.024
Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich pse_055.025
ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des pse_055.026
Gedankens ist nie am Ende, aber das Gebilde des Dichters ist pse_055.027
vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der pse_055.028
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lieben vorgibt, der liebt sie immer als die Gestalt. Die Gestalt pse_055.033
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/71>, abgerufen am 07.05.2024.