pse_055.001 hier aus Entscheidenderes gesagt werden. Einige allgemeine pse_055.002 Feststellungen können getroffen werden. Dichtung muß zunächst pse_055.003 immer den Wertmaßstäben entsprechen, die an eine pse_055.004 Dichtung in erster Linie gelegt werden müssen. Ob sie auf pse_055.005 theologischen Einsichten und religiösem Glauben gründet, pse_055.006 ist eine für das Wesen der betreffenden Dichtung sekundäre pse_055.007 Frage. Ob Gertrud Le Forts Roman "Der Kranz der Engel" pse_055.008 der katholischen Dogmatik entspricht, ist für den dichterischen pse_055.009 Wert des Werks nicht maßgebend. Umgekehrt versuchten pse_055.010 immer wieder Gruppen von religiös betroffenen Menschen, pse_055.011 religiöse Erneuerung in dichterischer Form zu bieten. Hier pse_055.012 werden die Kunstformen der Dichtung Mittel zum Zweck, pse_055.013 und damit ist schon der Weg von der reinen und echten pse_055.014 Dichtung weg beschritten. Die Religion verehrt das Wesenhafte pse_055.015 und Ewige, die Dichtung aber macht es in sinnbildlicher pse_055.016 Gestaltung als wirkende Urkraft lebendig.
pse_055.017 Dichtung und Metaphysik. Hier geht es vor allem um die pse_055.018 Frage, ob die Dichtung so wie ein metaphysisches System pse_055.019 Wahrheit biete und beanspruche. Wieder muß auf den fundamentalen pse_055.020 Unterschied von Dichtung gegenüber denkerischen pse_055.021 Werken hingewiesen werden. Metaphysik denkt das Wesenhafte, pse_055.022 Dichtung gestaltet es. "Ein ewiger Streit besteht seit pse_055.023 Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der pse_055.024 Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich pse_055.025 ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des pse_055.026 Gedankens ist nie am Ende, aber das Gebilde des Dichters ist pse_055.027 vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der pse_055.028 Symbole. Wir empfangen aus seiner Hand ein gegliedertes pse_055.029 Gefüge der Welt, gereinigt von allem Faserwerk philosophischer pse_055.030 Begriffe" (Curtius). Und Hofmannsthal sagt: "Wir pse_055.031 vermögen nur die Gestalt zu lieben, und wer die Ideen zu pse_055.032 lieben vorgibt, der liebt sie immer als die Gestalt. Die Gestalt pse_055.033 erledigt das Problem, sie beantwortet das Unbeantwortbare." pse_055.034 Dichtung ist nicht Philosophie, auch schon deshalb nicht, weil pse_055.035 viele Gedichte gar keine philosophischen Probleme stellen, pse_055.036 das "Heidenröslein" und "Wanderers Nachtlied" haben nichts pse_055.037 mit Philosophie zu tun, aber doch öffnet sich in ihnen als pse_055.038 einem dichterischen Gebilde Tieferes, wird das menschliche
pse_055.001 hier aus Entscheidenderes gesagt werden. Einige allgemeine pse_055.002 Feststellungen können getroffen werden. Dichtung muß zunächst pse_055.003 immer den Wertmaßstäben entsprechen, die an eine pse_055.004 Dichtung in erster Linie gelegt werden müssen. Ob sie auf pse_055.005 theologischen Einsichten und religiösem Glauben gründet, pse_055.006 ist eine für das Wesen der betreffenden Dichtung sekundäre pse_055.007 Frage. Ob Gertrud Le Forts Roman »Der Kranz der Engel« pse_055.008 der katholischen Dogmatik entspricht, ist für den dichterischen pse_055.009 Wert des Werks nicht maßgebend. Umgekehrt versuchten pse_055.010 immer wieder Gruppen von religiös betroffenen Menschen, pse_055.011 religiöse Erneuerung in dichterischer Form zu bieten. Hier pse_055.012 werden die Kunstformen der Dichtung Mittel zum Zweck, pse_055.013 und damit ist schon der Weg von der reinen und echten pse_055.014 Dichtung weg beschritten. Die Religion verehrt das Wesenhafte pse_055.015 und Ewige, die Dichtung aber macht es in sinnbildlicher pse_055.016 Gestaltung als wirkende Urkraft lebendig.
pse_055.017 Dichtung und Metaphysik. Hier geht es vor allem um die pse_055.018 Frage, ob die Dichtung so wie ein metaphysisches System pse_055.019 Wahrheit biete und beanspruche. Wieder muß auf den fundamentalen pse_055.020 Unterschied von Dichtung gegenüber denkerischen pse_055.021 Werken hingewiesen werden. Metaphysik denkt das Wesenhafte, pse_055.022 Dichtung gestaltet es. »Ein ewiger Streit besteht seit pse_055.023 Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der pse_055.024 Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich pse_055.025 ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des pse_055.026 Gedankens ist nie am Ende, aber das Gebilde des Dichters ist pse_055.027 vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der pse_055.028 Symbole. Wir empfangen aus seiner Hand ein gegliedertes pse_055.029 Gefüge der Welt, gereinigt von allem Faserwerk philosophischer pse_055.030 Begriffe« (Curtius). Und Hofmannsthal sagt: »Wir pse_055.031 vermögen nur die Gestalt zu lieben, und wer die Ideen zu pse_055.032 lieben vorgibt, der liebt sie immer als die Gestalt. Die Gestalt pse_055.033 erledigt das Problem, sie beantwortet das Unbeantwortbare.« pse_055.034 Dichtung ist nicht Philosophie, auch schon deshalb nicht, weil pse_055.035 viele Gedichte gar keine philosophischen Probleme stellen, pse_055.036 das »Heidenröslein« und »Wanderers Nachtlied« haben nichts pse_055.037 mit Philosophie zu tun, aber doch öffnet sich in ihnen als pse_055.038 einem dichterischen Gebilde Tieferes, wird das menschliche
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Wert des Werks nicht maßgebend. Umgekehrt versuchten pse_055.010
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/71>, abgerufen am 25.11.2024.
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