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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Sichten und sittliche Antriebe erscheinen. In einer Dichtung pse_054.002
kann die Haltung der Frömmigkeit lebendig werden, in pse_054.003
einem Sonett des Gryphius kann uns in der Bildkraft der pse_054.004
Sprache, im Rhythmus, in den Spannungen des Aufbaus das pse_054.005
Vanitas-Erleben aufbrechen, die Verehrung des Ewigen lebendig pse_054.006
werden. Im dramatischen Gespräch zwischen Faust und pse_054.007
dem Erdgeist erleben wir an der unmittelbaren Gewalt dieses pse_054.008
Gesprächs, am rhythmischen Auf und Ab und an der Einprägsamkeit pse_054.009
der sprachlichen Bilder etwas von der Hintergründigkeit pse_054.010
der Welt, wir sagen: sie wird Bild in diesen pse_054.011
Versen. Gesellschaftliche und sittliche Fragen liegen den naturalistischen pse_054.012
Dramen G. Hauptmanns zugrunde, im ästhetischen pse_054.013
Gebilde seiner Dramen sind sie aufgehoben im dreifachen pse_054.014
Hegelschen Sinn: nicht mehr nur als solche uns unmittelbar pse_054.015
gegeben, aber doch aufbewahrt in diesem Kunstgefäß pse_054.016
und damit zugleich aus dem Alltag emporgehoben.

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Aber theoretisch muß die Trennung klar sein: im Kunstwerk, pse_054.018
in der Dichtung haben wir es mit einem geschlossenen pse_054.019
Gebilde eigner Gesetzlichkeit zu tun, in das andere Wertgebiete pse_054.020
als Glieder und zugleich entsprechend umgeformt pse_054.021
eingefügt sind. Wir gehen noch kurz auf die einzelnen Zusammenhänge pse_054.022
ein.

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Dichtung und Religion. Zunächst ist die Dichtung ein weiterer pse_054.024
Bereich als die Religion. Gewiß kann das Heilige in der pse_054.025
Dichtung aufgehoben sein. Aber wenn nur das Heilige in pse_054.026
die Dichtung eingeformt würde, fielen weite Bereiche aus pse_054.027
der Dichtung weg. Etwa die Rokokogedichte der Anakreontiker, pse_054.028
die Satiren des 16. Jahrhunderts, viele Novellen Gottfried pse_054.029
Kellers usw. Andererseits gibt es eine Menge engster pse_054.030
Bezüge. Gewiß sind gereimte und versifizierte Gebete meist pse_054.031
keine Dichtung, aber sie können es sein. Man denke an Paul pse_054.032
Gerhards "O Haupt voll Blut und Wunden". Die Visionen pse_054.033
der Katharina Emmerich sind in der Nachschrift Clemens pse_054.034
Brentanos Kunstwerke sprachlicher Art. Ob sie Dichtungen pse_054.035
oder religiöse Erbauungsschriften sind, läßt sich nicht ohne pse_054.036
weiteres ausmachen, es kommt auch auf den an, der sie liest pse_054.037
und hört. Erst wenn man sich über die Grundgesetzlichkeiten pse_054.038
eines religiösen Gutes und einer Dichtung klar ist, kann von

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Sichten und sittliche Antriebe erscheinen. In einer Dichtung pse_054.002
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Vanitas-Erleben aufbrechen, die Verehrung des Ewigen lebendig pse_054.006
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Gebilde seiner Dramen sind sie aufgehoben im dreifachen pse_054.014
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und damit zugleich aus dem Alltag emporgehoben.

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in der Dichtung haben wir es mit einem geschlossenen pse_054.019
Gebilde eigner Gesetzlichkeit zu tun, in das andere Wertgebiete pse_054.020
als Glieder und zugleich entsprechend umgeformt pse_054.021
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Dichtung und Religion. Zunächst ist die Dichtung ein weiterer pse_054.024
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die Dichtung eingeformt würde, fielen weite Bereiche aus pse_054.027
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die Satiren des 16. Jahrhunderts, viele Novellen Gottfried pse_054.029
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Gerhards »O Haupt voll Blut und Wunden«. Die Visionen pse_054.033
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Brentanos Kunstwerke sprachlicher Art. Ob sie Dichtungen pse_054.035
oder religiöse Erbauungsschriften sind, läßt sich nicht ohne pse_054.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/70>, abgerufen am 07.05.2024.