pse_054.001 Sichten und sittliche Antriebe erscheinen. In einer Dichtung pse_054.002 kann die Haltung der Frömmigkeit lebendig werden, in pse_054.003 einem Sonett des Gryphius kann uns in der Bildkraft der pse_054.004 Sprache, im Rhythmus, in den Spannungen des Aufbaus das pse_054.005 Vanitas-Erleben aufbrechen, die Verehrung des Ewigen lebendig pse_054.006 werden. Im dramatischen Gespräch zwischen Faust und pse_054.007 dem Erdgeist erleben wir an der unmittelbaren Gewalt dieses pse_054.008 Gesprächs, am rhythmischen Auf und Ab und an der Einprägsamkeit pse_054.009 der sprachlichen Bilder etwas von der Hintergründigkeit pse_054.010 der Welt, wir sagen: sie wird Bild in diesen pse_054.011 Versen. Gesellschaftliche und sittliche Fragen liegen den naturalistischen pse_054.012 Dramen G. Hauptmanns zugrunde, im ästhetischen pse_054.013 Gebilde seiner Dramen sind sie aufgehoben im dreifachen pse_054.014 Hegelschen Sinn: nicht mehr nur als solche uns unmittelbar pse_054.015 gegeben, aber doch aufbewahrt in diesem Kunstgefäß pse_054.016 und damit zugleich aus dem Alltag emporgehoben.
pse_054.017 Aber theoretisch muß die Trennung klar sein: im Kunstwerk, pse_054.018 in der Dichtung haben wir es mit einem geschlossenen pse_054.019 Gebilde eigner Gesetzlichkeit zu tun, in das andere Wertgebiete pse_054.020 als Glieder und zugleich entsprechend umgeformt pse_054.021 eingefügt sind. Wir gehen noch kurz auf die einzelnen Zusammenhänge pse_054.022 ein.
pse_054.023 Dichtung und Religion. Zunächst ist die Dichtung ein weiterer pse_054.024 Bereich als die Religion. Gewiß kann das Heilige in der pse_054.025 Dichtung aufgehoben sein. Aber wenn nur das Heilige in pse_054.026 die Dichtung eingeformt würde, fielen weite Bereiche aus pse_054.027 der Dichtung weg. Etwa die Rokokogedichte der Anakreontiker, pse_054.028 die Satiren des 16. Jahrhunderts, viele Novellen Gottfried pse_054.029 Kellers usw. Andererseits gibt es eine Menge engster pse_054.030 Bezüge. Gewiß sind gereimte und versifizierte Gebete meist pse_054.031 keine Dichtung, aber sie können es sein. Man denke an Paul pse_054.032 Gerhards "O Haupt voll Blut und Wunden". Die Visionen pse_054.033 der Katharina Emmerich sind in der Nachschrift Clemens pse_054.034 Brentanos Kunstwerke sprachlicher Art. Ob sie Dichtungen pse_054.035 oder religiöse Erbauungsschriften sind, läßt sich nicht ohne pse_054.036 weiteres ausmachen, es kommt auch auf den an, der sie liest pse_054.037 und hört. Erst wenn man sich über die Grundgesetzlichkeiten pse_054.038 eines religiösen Gutes und einer Dichtung klar ist, kann von
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pse_054.017 Aber theoretisch muß die Trennung klar sein: im Kunstwerk, pse_054.018 in der Dichtung haben wir es mit einem geschlossenen pse_054.019 Gebilde eigner Gesetzlichkeit zu tun, in das andere Wertgebiete pse_054.020 als Glieder und zugleich entsprechend umgeformt pse_054.021 eingefügt sind. Wir gehen noch kurz auf die einzelnen Zusammenhänge pse_054.022 ein.
pse_054.023 Dichtung und Religion. Zunächst ist die Dichtung ein weiterer pse_054.024 Bereich als die Religion. Gewiß kann das Heilige in der pse_054.025 Dichtung aufgehoben sein. Aber wenn nur das Heilige in pse_054.026 die Dichtung eingeformt würde, fielen weite Bereiche aus pse_054.027 der Dichtung weg. Etwa die Rokokogedichte der Anakreontiker, pse_054.028 die Satiren des 16. Jahrhunderts, viele Novellen Gottfried pse_054.029 Kellers usw. Andererseits gibt es eine Menge engster pse_054.030 Bezüge. Gewiß sind gereimte und versifizierte Gebete meist pse_054.031 keine Dichtung, aber sie können es sein. Man denke an Paul pse_054.032 Gerhards »O Haupt voll Blut und Wunden«. Die Visionen pse_054.033 der Katharina Emmerich sind in der Nachschrift Clemens pse_054.034 Brentanos Kunstwerke sprachlicher Art. Ob sie Dichtungen pse_054.035 oder religiöse Erbauungsschriften sind, läßt sich nicht ohne pse_054.036 weiteres ausmachen, es kommt auch auf den an, der sie liest pse_054.037 und hört. Erst wenn man sich über die Grundgesetzlichkeiten pse_054.038 eines religiösen Gutes und einer Dichtung klar ist, kann von
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Vanitas-Erleben aufbrechen, die Verehrung des Ewigen lebendig pse_054.006
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Kellers usw. Andererseits gibt es eine Menge engster pse_054.030
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/70>, abgerufen am 25.11.2024.
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