pse_677.001 sich so vielleicht weiterkommen. Viel wichtiger allerdings pse_677.002 ist etwa die Aufgewühltheit wesentlicher Menschen bei der pse_677.003 Begegnung mit einer Dichtung; daran kann sich die Frage pse_677.004 anschließen, wie es zu dieser Aufgewühltheit kommt. Wir pse_677.005 haben so von einer wesentlicheren Seite einen Zugang versucht.
pse_677.006
pse_677.007 Immer wieder aber zeigt sich: Dichtungen sind uns nie an pse_677.008 sich -- als Dinge an sich! -- gegeben, sondern jeweils in einer pse_677.009 bestimmten Verwirklichung, Konkretisierung, die eben jedes pse_677.010 Erleben einer Dichtung darstellt. Diese Verwirklichungen können pse_677.011 auch bei derselben Dichtung sehr verschieden sein; wie pse_677.012 anders wird ein belesener, gebildeter und tief veranlagter pse_677.013 Mensch eine Barocktragödie erleben als ein Lebemann mit pse_677.014 liebenswürdiger Angelesenheit in moderner Literatur. Immer pse_677.015 wieder ergibt sich, wenn wir Aussagen über eine Dichtung pse_677.016 machen wollen: das Erlebnis eines aufgeschlossenen und gebildeten pse_677.017 Lesers muß als Konkretisierung gleichsam mitgedacht pse_677.018 sein. Ja vielfach vollendet sich die Dichtung erst in der Begegnung pse_677.019 mit einem Leser: erst da werden die künstlerischen pse_677.020 und gehaltlichen Möglichkeiten und Werte einer Dichtung pse_677.021 aktualisiert, erwacht sie zu Leben. Das hieße also, daß Dichtung pse_677.022 erst im Zustand des Wirkens ihr ganzes Sein entfaltet pse_677.023 und offenbart.
pse_677.024 Das Kunsterlebnis ist also sehr wesentlich. Wie soll man pse_677.025 aber das adäquate Erlebnis eines Kunstwerks umschreiben, so pse_677.026 daß auch die ursprünglichen, noch nicht ausdifferenzierten pse_677.027 Einstellungen zu ihm mit einbegriffen sind? Wohl etwa so, daß pse_677.028 im tiefen und vollständigen Erfahren der künstlerischen Gestalt pse_677.029 das Gestaltete, der Gehalt, der welterhellende Hintergrund pse_677.030 auch lebendig wird. Das geschieht in betrachtender pse_677.031 Haltung, die aber nicht stumpfe Ruhe bedeutet, sondern von pse_677.032 tiefer Bewegtheit getragen wird. Die Bewegung, die irgendwie pse_677.033 in jedem Kunstwerk, vor allem in der Dichtung aus dem pse_677.034 zeitlichen Wesen der Sprache da ist und sich in dem Menschlichen pse_677.035 in ihr und in der gesamten künstlerischen Anlage pse_677.036 offenbart, überträgt sich auch auf den Erlebenden, der auch pse_677.037 in betrachtender Einstellung mitgetragen wird von der Bewegung pse_677.038 im Kunstwerk. Diese Bewegtheit kann die verschiedensten
pse_677.001 sich so vielleicht weiterkommen. Viel wichtiger allerdings pse_677.002 ist etwa die Aufgewühltheit wesentlicher Menschen bei der pse_677.003 Begegnung mit einer Dichtung; daran kann sich die Frage pse_677.004 anschließen, wie es zu dieser Aufgewühltheit kommt. Wir pse_677.005 haben so von einer wesentlicheren Seite einen Zugang versucht.
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pse_677.007 Immer wieder aber zeigt sich: Dichtungen sind uns nie an pse_677.008 sich — als Dinge an sich! — gegeben, sondern jeweils in einer pse_677.009 bestimmten Verwirklichung, Konkretisierung, die eben jedes pse_677.010 Erleben einer Dichtung darstellt. Diese Verwirklichungen können pse_677.011 auch bei derselben Dichtung sehr verschieden sein; wie pse_677.012 anders wird ein belesener, gebildeter und tief veranlagter pse_677.013 Mensch eine Barocktragödie erleben als ein Lebemann mit pse_677.014 liebenswürdiger Angelesenheit in moderner Literatur. Immer pse_677.015 wieder ergibt sich, wenn wir Aussagen über eine Dichtung pse_677.016 machen wollen: das Erlebnis eines aufgeschlossenen und gebildeten pse_677.017 Lesers muß als Konkretisierung gleichsam mitgedacht pse_677.018 sein. Ja vielfach vollendet sich die Dichtung erst in der Begegnung pse_677.019 mit einem Leser: erst da werden die künstlerischen pse_677.020 und gehaltlichen Möglichkeiten und Werte einer Dichtung pse_677.021 aktualisiert, erwacht sie zu Leben. Das hieße also, daß Dichtung pse_677.022 erst im Zustand des Wirkens ihr ganzes Sein entfaltet pse_677.023 und offenbart.
pse_677.024 Das Kunsterlebnis ist also sehr wesentlich. Wie soll man pse_677.025 aber das adäquate Erlebnis eines Kunstwerks umschreiben, so pse_677.026 daß auch die ursprünglichen, noch nicht ausdifferenzierten pse_677.027 Einstellungen zu ihm mit einbegriffen sind? Wohl etwa so, daß pse_677.028 im tiefen und vollständigen Erfahren der künstlerischen Gestalt pse_677.029 das Gestaltete, der Gehalt, der welterhellende Hintergrund pse_677.030 auch lebendig wird. Das geschieht in betrachtender pse_677.031 Haltung, die aber nicht stumpfe Ruhe bedeutet, sondern von pse_677.032 tiefer Bewegtheit getragen wird. Die Bewegung, die irgendwie pse_677.033 in jedem Kunstwerk, vor allem in der Dichtung aus dem pse_677.034 zeitlichen Wesen der Sprache da ist und sich in dem Menschlichen pse_677.035 in ihr und in der gesamten künstlerischen Anlage pse_677.036 offenbart, überträgt sich auch auf den Erlebenden, der auch pse_677.037 in betrachtender Einstellung mitgetragen wird von der Bewegung pse_677.038 im Kunstwerk. Diese Bewegtheit kann die verschiedensten
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Begegnung mit einer Dichtung; daran kann sich die Frage pse_677.004
anschließen, wie es zu dieser Aufgewühltheit kommt. Wir pse_677.005
haben so von einer wesentlicheren Seite einen Zugang versucht.
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Immer wieder aber zeigt sich: Dichtungen sind uns nie an pse_677.008
sich — als Dinge an sich! — gegeben, sondern jeweils in einer pse_677.009
bestimmten Verwirklichung, Konkretisierung, die eben jedes pse_677.010
Erleben einer Dichtung darstellt. Diese Verwirklichungen können pse_677.011
auch bei derselben Dichtung sehr verschieden sein; wie pse_677.012
anders wird ein belesener, gebildeter und tief veranlagter pse_677.013
Mensch eine Barocktragödie erleben als ein Lebemann mit pse_677.014
liebenswürdiger Angelesenheit in moderner Literatur. Immer pse_677.015
wieder ergibt sich, wenn wir Aussagen über eine Dichtung pse_677.016
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mit einem Leser: erst da werden die künstlerischen pse_677.020
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erst im Zustand des Wirkens ihr ganzes Sein entfaltet pse_677.023
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pse_677.024
Das Kunsterlebnis ist also sehr wesentlich. Wie soll man pse_677.025
aber das adäquate Erlebnis eines Kunstwerks umschreiben, so pse_677.026
daß auch die ursprünglichen, noch nicht ausdifferenzierten pse_677.027
Einstellungen zu ihm mit einbegriffen sind? Wohl etwa so, daß pse_677.028
im tiefen und vollständigen Erfahren der künstlerischen Gestalt pse_677.029
das Gestaltete, der Gehalt, der welterhellende Hintergrund pse_677.030
auch lebendig wird. Das geschieht in betrachtender pse_677.031
Haltung, die aber nicht stumpfe Ruhe bedeutet, sondern von pse_677.032
tiefer Bewegtheit getragen wird. Die Bewegung, die irgendwie pse_677.033
in jedem Kunstwerk, vor allem in der Dichtung aus dem pse_677.034
zeitlichen Wesen der Sprache da ist und sich in dem Menschlichen pse_677.035
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/693>, abgerufen am 23.11.2024.
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