Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_678.001
Schattierungen und Grade haben, wird aber pse_678.002
immer das Tiefste unseres Menschseins betreffen. Der Vorgang pse_678.003
einer solchen Begegnung beginnt damit, daß sich die pse_678.004
Dichtung in der ersten Berührung mit ihr geradezu befremdend pse_678.005
aufdrängt, wir fühlen uns zum Kunstwerk hin entrückt, pse_678.006
wir vergessen die Welt um uns und finden nachher nur pse_678.007
schwer in sie zurück. Dabei führt diese Begegnung nicht zu pse_678.008
Zerstreuung, sondern zu Verdichtung auf das eigene Sein pse_678.009
durch das Werk. Nach der Art der Dichtung entfaltet sich pse_678.010
das Kunsterlebnis in verschiedener Weise innerhalb bestimmter pse_678.011
Grenzen. Die flüchtigste Art ist die Unterhaltung, die den pse_678.012
Ernst zurückdrängt und eine leichte Heiterkeit und Gelöstheit pse_678.013
erzeugt. Die höchste, zugleich aufwühlendste Art ist die Erhebung pse_678.014
in allen Spielarten, zu denen auch durchaus die hohe pse_678.015
Heiterkeit gehört.

pse_678.016
Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung

pse_678.017
Mit der Überlegung über die Art einer Begegnung mit pse_678.018
Dichtung ist die Voraussetzung gegeben, die Wirkung einer pse_678.019
Dichtung genauer zu bestimmen. Nochmals sei betont, daß pse_678.020
es sich auch hier nicht um den Zweck der Dichtung handelt, pse_678.021
der in einer bestimmten Wirkung läge, sondern um eine notwendige pse_678.022
Folge ihres Daseins und Soseins. Sie steht im menschlichen pse_678.023
Bereich: sie bildet sich in ihm und sie wirkt sich in ihm pse_678.024
aus.

pse_678.025
1. Wir fragen zuerst, in welcher Richtung die Wirkung pse_678.026
geht. Dabei muß das Wort Wirkung möglichst weit gefaßt pse_678.027
sein. Es gibt, genau besehen, auch eine engere Fassung. Jedes pse_678.028
Dasein einer Dichtung kann in dreifacher Brechung bestimmt pse_678.029
werden: sie stellt etwas vor uns hin in einer bestimmten pse_678.030
künstlerischen Formung; sie erregt dadurch in irgendeiner pse_678.031
Weise das menschliche Gemüt: das wäre die Wirkung im pse_678.032
engeren und unmittelbaren Sinn; und endlich erhellt sie dadurch pse_678.033
Weltzusammenhänge und Welttiefen. Aber alle drei pse_678.034
Entfaltungsweisen ihres Daseins bedeuten zugleich ein Wirken pse_678.035
im weiteren Sinn: die Vorstellung wird für uns zu einer

pse_678.001
Schattierungen und Grade haben, wird aber pse_678.002
immer das Tiefste unseres Menschseins betreffen. Der Vorgang pse_678.003
einer solchen Begegnung beginnt damit, daß sich die pse_678.004
Dichtung in der ersten Berührung mit ihr geradezu befremdend pse_678.005
aufdrängt, wir fühlen uns zum Kunstwerk hin entrückt, pse_678.006
wir vergessen die Welt um uns und finden nachher nur pse_678.007
schwer in sie zurück. Dabei führt diese Begegnung nicht zu pse_678.008
Zerstreuung, sondern zu Verdichtung auf das eigene Sein pse_678.009
durch das Werk. Nach der Art der Dichtung entfaltet sich pse_678.010
das Kunsterlebnis in verschiedener Weise innerhalb bestimmter pse_678.011
Grenzen. Die flüchtigste Art ist die Unterhaltung, die den pse_678.012
Ernst zurückdrängt und eine leichte Heiterkeit und Gelöstheit pse_678.013
erzeugt. Die höchste, zugleich aufwühlendste Art ist die Erhebung pse_678.014
in allen Spielarten, zu denen auch durchaus die hohe pse_678.015
Heiterkeit gehört.

pse_678.016
Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung

pse_678.017
Mit der Überlegung über die Art einer Begegnung mit pse_678.018
Dichtung ist die Voraussetzung gegeben, die Wirkung einer pse_678.019
Dichtung genauer zu bestimmen. Nochmals sei betont, daß pse_678.020
es sich auch hier nicht um den Zweck der Dichtung handelt, pse_678.021
der in einer bestimmten Wirkung läge, sondern um eine notwendige pse_678.022
Folge ihres Daseins und Soseins. Sie steht im menschlichen pse_678.023
Bereich: sie bildet sich in ihm und sie wirkt sich in ihm pse_678.024
aus.

pse_678.025
1. Wir fragen zuerst, in welcher Richtung die Wirkung pse_678.026
geht. Dabei muß das Wort Wirkung möglichst weit gefaßt pse_678.027
sein. Es gibt, genau besehen, auch eine engere Fassung. Jedes pse_678.028
Dasein einer Dichtung kann in dreifacher Brechung bestimmt pse_678.029
werden: sie stellt etwas vor uns hin in einer bestimmten pse_678.030
künstlerischen Formung; sie erregt dadurch in irgendeiner pse_678.031
Weise das menschliche Gemüt: das wäre die Wirkung im pse_678.032
engeren und unmittelbaren Sinn; und endlich erhellt sie dadurch pse_678.033
Weltzusammenhänge und Welttiefen. Aber alle drei pse_678.034
Entfaltungsweisen ihres Daseins bedeuten zugleich ein Wirken pse_678.035
im weiteren Sinn: die Vorstellung wird für uns zu einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0694" n="678"/><lb n="pse_678.001"/>
Schattierungen und Grade haben, wird aber <lb n="pse_678.002"/>
immer das Tiefste unseres Menschseins betreffen. Der Vorgang <lb n="pse_678.003"/>
einer solchen Begegnung beginnt damit, daß sich die <lb n="pse_678.004"/>
Dichtung in der ersten Berührung mit ihr geradezu befremdend <lb n="pse_678.005"/>
aufdrängt, wir fühlen uns zum Kunstwerk hin entrückt, <lb n="pse_678.006"/>
wir vergessen die Welt um uns und finden nachher nur <lb n="pse_678.007"/>
schwer in sie zurück. Dabei führt diese Begegnung nicht zu <lb n="pse_678.008"/>
Zerstreuung, sondern zu Verdichtung auf das eigene Sein <lb n="pse_678.009"/>
durch das Werk. Nach der Art der Dichtung entfaltet sich <lb n="pse_678.010"/>
das Kunsterlebnis in verschiedener Weise innerhalb bestimmter <lb n="pse_678.011"/>
Grenzen. Die flüchtigste Art ist die Unterhaltung, die den <lb n="pse_678.012"/>
Ernst zurückdrängt und eine leichte Heiterkeit und Gelöstheit <lb n="pse_678.013"/>
erzeugt. Die höchste, zugleich aufwühlendste Art ist die Erhebung <lb n="pse_678.014"/>
in allen Spielarten, zu denen auch durchaus die hohe <lb n="pse_678.015"/>
Heiterkeit gehört.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pse_678.016"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_678.017"/>
Mit der Überlegung über die Art einer Begegnung mit <lb n="pse_678.018"/>
Dichtung ist die Voraussetzung gegeben, die Wirkung einer <lb n="pse_678.019"/>
Dichtung genauer zu bestimmen. Nochmals sei betont, daß <lb n="pse_678.020"/>
es sich auch hier nicht um den Zweck der Dichtung handelt, <lb n="pse_678.021"/>
der in einer bestimmten Wirkung läge, sondern um eine notwendige <lb n="pse_678.022"/>
Folge ihres Daseins und Soseins. Sie steht im menschlichen <lb n="pse_678.023"/>
Bereich: sie bildet sich in ihm und sie wirkt sich in ihm <lb n="pse_678.024"/>
aus.</p>
            <p><lb n="pse_678.025"/>
1. Wir fragen zuerst, in welcher Richtung die Wirkung <lb n="pse_678.026"/>
geht. Dabei muß das Wort Wirkung möglichst weit gefaßt <lb n="pse_678.027"/>
sein. Es gibt, genau besehen, auch eine engere Fassung. Jedes <lb n="pse_678.028"/>
Dasein einer Dichtung kann in dreifacher Brechung bestimmt <lb n="pse_678.029"/>
werden: sie stellt etwas vor uns hin in einer bestimmten <lb n="pse_678.030"/>
künstlerischen Formung; sie erregt dadurch in irgendeiner <lb n="pse_678.031"/>
Weise das menschliche Gemüt: das wäre die Wirkung im <lb n="pse_678.032"/>
engeren und unmittelbaren Sinn; und endlich erhellt sie dadurch <lb n="pse_678.033"/>
Weltzusammenhänge und Welttiefen. Aber alle drei <lb n="pse_678.034"/>
Entfaltungsweisen ihres Daseins bedeuten zugleich ein Wirken <lb n="pse_678.035"/>
im weiteren Sinn: die Vorstellung wird für uns zu einer
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[678/0694] pse_678.001 Schattierungen und Grade haben, wird aber pse_678.002 immer das Tiefste unseres Menschseins betreffen. Der Vorgang pse_678.003 einer solchen Begegnung beginnt damit, daß sich die pse_678.004 Dichtung in der ersten Berührung mit ihr geradezu befremdend pse_678.005 aufdrängt, wir fühlen uns zum Kunstwerk hin entrückt, pse_678.006 wir vergessen die Welt um uns und finden nachher nur pse_678.007 schwer in sie zurück. Dabei führt diese Begegnung nicht zu pse_678.008 Zerstreuung, sondern zu Verdichtung auf das eigene Sein pse_678.009 durch das Werk. Nach der Art der Dichtung entfaltet sich pse_678.010 das Kunsterlebnis in verschiedener Weise innerhalb bestimmter pse_678.011 Grenzen. Die flüchtigste Art ist die Unterhaltung, die den pse_678.012 Ernst zurückdrängt und eine leichte Heiterkeit und Gelöstheit pse_678.013 erzeugt. Die höchste, zugleich aufwühlendste Art ist die Erhebung pse_678.014 in allen Spielarten, zu denen auch durchaus die hohe pse_678.015 Heiterkeit gehört. pse_678.016 Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung pse_678.017 Mit der Überlegung über die Art einer Begegnung mit pse_678.018 Dichtung ist die Voraussetzung gegeben, die Wirkung einer pse_678.019 Dichtung genauer zu bestimmen. Nochmals sei betont, daß pse_678.020 es sich auch hier nicht um den Zweck der Dichtung handelt, pse_678.021 der in einer bestimmten Wirkung läge, sondern um eine notwendige pse_678.022 Folge ihres Daseins und Soseins. Sie steht im menschlichen pse_678.023 Bereich: sie bildet sich in ihm und sie wirkt sich in ihm pse_678.024 aus. pse_678.025 1. Wir fragen zuerst, in welcher Richtung die Wirkung pse_678.026 geht. Dabei muß das Wort Wirkung möglichst weit gefaßt pse_678.027 sein. Es gibt, genau besehen, auch eine engere Fassung. Jedes pse_678.028 Dasein einer Dichtung kann in dreifacher Brechung bestimmt pse_678.029 werden: sie stellt etwas vor uns hin in einer bestimmten pse_678.030 künstlerischen Formung; sie erregt dadurch in irgendeiner pse_678.031 Weise das menschliche Gemüt: das wäre die Wirkung im pse_678.032 engeren und unmittelbaren Sinn; und endlich erhellt sie dadurch pse_678.033 Weltzusammenhänge und Welttiefen. Aber alle drei pse_678.034 Entfaltungsweisen ihres Daseins bedeuten zugleich ein Wirken pse_678.035 im weiteren Sinn: die Vorstellung wird für uns zu einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/694
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/694>, abgerufen am 23.11.2024.