Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_660.001
und das Medium für die Dichtung, die aus ihnen hervorgeht. pse_660.002
Das Weltbild in den Schwänken des Hans Sachs ist verschieden pse_660.003
von dem im Humanistendrama, aber ebenso verschieden pse_660.004
von der bürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Der pse_660.005
aristokratisch gebundene Börries von Münchhausen gestaltet pse_660.006
in seinen Balladen ein anderes Weltbild als die Aristokraten des pse_660.007
17. Jahrhunderts in ihren Romanen. Das wirkt bis in die Art pse_660.008
der Überlieferung der Dichtung. Ob Dichtung mündlich pse_660.009
oder schriftlich weitergegeben wird, ist für den Gehalt nicht pse_660.010
unwesentlich. Zugleich liegen nicht immer dieselben gesellschaftlichen pse_660.011
Ursachen vor. Die mündlich überlieferte Dichtung pse_660.012
der alten Germanen war reine Adelsdichtung, die Bauerndichtung pse_660.013
der Sagas war bereits aufgeschrieben. Hier ist die pse_660.014
Einwirkung des antik-christlichen Kulturbereichs maßgebend. pse_660.015
Später wird die Adelsdichtung aufgeschrieben, nicht dagegen pse_660.016
so ausschließlich die der Fahrenden und Volkslieder. Bei diesen pse_660.017
engen Zusammenhängen werden sich auch Gesellschaftsumbildungen pse_660.018
und besonders -umbrüche in der Dichtung pse_660.019
deutlich bemerkbar machen. Man denke an die gesellschaftlichen pse_660.020
Wandlungen in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts pse_660.021
und ihre Auswirkungen auf den dichterischen Gehalt.

pse_660.022

pse_660.023
Ebenso sind alle diese gesellschaftlichen Verhältnisse und pse_660.024
Wandlungen für die künstlerische Gestalt der Dichtung pse_660.025
wichtig. Jede Gesellschaftsklasse bildet ihre eigenen Kunstansichten pse_660.026
aus. Wie verschieden sind die Kunstanschauungen pse_660.027
der Höflinge und der Bürger im 17. Jahrhundert trotz aller pse_660.028
Einflüsse auf diese, und wie sehr hat sich die Einstellung zur pse_660.029
Kunst in der Bürgerwelt vom 18. ins 19. Jahrhundert gewandelt. pse_660.030
Daraus bildet sich jeweils ein bestimmter Geschmack. pse_660.031
Darunter wollen wir die Tatsache verstehen, daß die innerste, pse_660.032
gefühlsmäßige Einstellung zur Kunst unter Leitung des Verstandes pse_660.033
eine gewisse normierte Form annimmt. Wie diese pse_660.034
Einstellungen die künstlerische Form, den Stil bestimmen, pse_660.035
zeigt uns die Ritterdichtung, die französische Klassik, aber pse_660.036
auch der Naturalismus und jetzt der Realismus in Rußland. pse_660.037
Auch die Symbolsprache ist von daher bestimmt: einerseits pse_660.038
dadurch, welche Bilder aus welchen Bereichen Symbolwert

pse_660.001
und das Medium für die Dichtung, die aus ihnen hervorgeht. pse_660.002
Das Weltbild in den Schwänken des Hans Sachs ist verschieden pse_660.003
von dem im Humanistendrama, aber ebenso verschieden pse_660.004
von der bürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Der pse_660.005
aristokratisch gebundene Börries von Münchhausen gestaltet pse_660.006
in seinen Balladen ein anderes Weltbild als die Aristokraten des pse_660.007
17. Jahrhunderts in ihren Romanen. Das wirkt bis in die Art pse_660.008
der Überlieferung der Dichtung. Ob Dichtung mündlich pse_660.009
oder schriftlich weitergegeben wird, ist für den Gehalt nicht pse_660.010
unwesentlich. Zugleich liegen nicht immer dieselben gesellschaftlichen pse_660.011
Ursachen vor. Die mündlich überlieferte Dichtung pse_660.012
der alten Germanen war reine Adelsdichtung, die Bauerndichtung pse_660.013
der Sagas war bereits aufgeschrieben. Hier ist die pse_660.014
Einwirkung des antik-christlichen Kulturbereichs maßgebend. pse_660.015
Später wird die Adelsdichtung aufgeschrieben, nicht dagegen pse_660.016
so ausschließlich die der Fahrenden und Volkslieder. Bei diesen pse_660.017
engen Zusammenhängen werden sich auch Gesellschaftsumbildungen pse_660.018
und besonders -umbrüche in der Dichtung pse_660.019
deutlich bemerkbar machen. Man denke an die gesellschaftlichen pse_660.020
Wandlungen in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts pse_660.021
und ihre Auswirkungen auf den dichterischen Gehalt.

pse_660.022

pse_660.023
Ebenso sind alle diese gesellschaftlichen Verhältnisse und pse_660.024
Wandlungen für die künstlerische Gestalt der Dichtung pse_660.025
wichtig. Jede Gesellschaftsklasse bildet ihre eigenen Kunstansichten pse_660.026
aus. Wie verschieden sind die Kunstanschauungen pse_660.027
der Höflinge und der Bürger im 17. Jahrhundert trotz aller pse_660.028
Einflüsse auf diese, und wie sehr hat sich die Einstellung zur pse_660.029
Kunst in der Bürgerwelt vom 18. ins 19. Jahrhundert gewandelt. pse_660.030
Daraus bildet sich jeweils ein bestimmter Geschmack. pse_660.031
Darunter wollen wir die Tatsache verstehen, daß die innerste, pse_660.032
gefühlsmäßige Einstellung zur Kunst unter Leitung des Verstandes pse_660.033
eine gewisse normierte Form annimmt. Wie diese pse_660.034
Einstellungen die künstlerische Form, den Stil bestimmen, pse_660.035
zeigt uns die Ritterdichtung, die französische Klassik, aber pse_660.036
auch der Naturalismus und jetzt der Realismus in Rußland. pse_660.037
Auch die Symbolsprache ist von daher bestimmt: einerseits pse_660.038
dadurch, welche Bilder aus welchen Bereichen Symbolwert

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0676" n="660"/><lb n="pse_660.001"/>
und das Medium für die Dichtung, die aus ihnen hervorgeht. <lb n="pse_660.002"/>
Das Weltbild in den Schwänken des Hans Sachs ist verschieden <lb n="pse_660.003"/>
von dem im Humanistendrama, aber ebenso verschieden <lb n="pse_660.004"/>
von der bürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Der <lb n="pse_660.005"/>
aristokratisch gebundene Börries von Münchhausen gestaltet <lb n="pse_660.006"/>
in seinen Balladen ein anderes Weltbild als die Aristokraten des <lb n="pse_660.007"/>
17. Jahrhunderts in ihren Romanen. Das wirkt bis in die Art <lb n="pse_660.008"/>
der Überlieferung der Dichtung. Ob Dichtung mündlich <lb n="pse_660.009"/>
oder schriftlich weitergegeben wird, ist für den Gehalt nicht <lb n="pse_660.010"/>
unwesentlich. Zugleich liegen nicht immer dieselben gesellschaftlichen <lb n="pse_660.011"/>
Ursachen vor. Die mündlich überlieferte Dichtung <lb n="pse_660.012"/>
der alten Germanen war reine Adelsdichtung, die Bauerndichtung <lb n="pse_660.013"/>
der Sagas war bereits aufgeschrieben. Hier ist die <lb n="pse_660.014"/>
Einwirkung des antik-christlichen Kulturbereichs maßgebend. <lb n="pse_660.015"/>
Später wird die Adelsdichtung aufgeschrieben, nicht dagegen <lb n="pse_660.016"/>
so ausschließlich die der Fahrenden und Volkslieder. Bei diesen <lb n="pse_660.017"/>
engen Zusammenhängen werden sich auch Gesellschaftsumbildungen <lb n="pse_660.018"/>
und besonders -umbrüche in der Dichtung <lb n="pse_660.019"/>
deutlich bemerkbar machen. Man denke an die gesellschaftlichen <lb n="pse_660.020"/>
Wandlungen in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts <lb n="pse_660.021"/>
und ihre Auswirkungen auf den dichterischen Gehalt.</p>
            <lb n="pse_660.022"/>
            <p><lb n="pse_660.023"/>
Ebenso sind alle diese gesellschaftlichen Verhältnisse und <lb n="pse_660.024"/>
Wandlungen für die künstlerische Gestalt der Dichtung <lb n="pse_660.025"/>
wichtig. Jede Gesellschaftsklasse bildet ihre eigenen Kunstansichten <lb n="pse_660.026"/>
aus. Wie verschieden sind die Kunstanschauungen <lb n="pse_660.027"/>
der Höflinge und der Bürger im 17. Jahrhundert trotz aller <lb n="pse_660.028"/>
Einflüsse auf diese, und wie sehr hat sich die Einstellung zur <lb n="pse_660.029"/>
Kunst in der Bürgerwelt vom 18. ins 19. Jahrhundert gewandelt. <lb n="pse_660.030"/>
Daraus bildet sich jeweils ein bestimmter Geschmack. <lb n="pse_660.031"/>
Darunter wollen wir die Tatsache verstehen, daß die innerste, <lb n="pse_660.032"/>
gefühlsmäßige Einstellung zur Kunst unter Leitung des Verstandes <lb n="pse_660.033"/>
eine gewisse normierte Form annimmt. Wie diese <lb n="pse_660.034"/>
Einstellungen die künstlerische Form, den Stil bestimmen, <lb n="pse_660.035"/>
zeigt uns die Ritterdichtung, die französische Klassik, aber <lb n="pse_660.036"/>
auch der Naturalismus und jetzt der Realismus in Rußland. <lb n="pse_660.037"/>
Auch die Symbolsprache ist von daher bestimmt: einerseits <lb n="pse_660.038"/>
dadurch, welche Bilder aus welchen Bereichen Symbolwert
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[660/0676] pse_660.001 und das Medium für die Dichtung, die aus ihnen hervorgeht. pse_660.002 Das Weltbild in den Schwänken des Hans Sachs ist verschieden pse_660.003 von dem im Humanistendrama, aber ebenso verschieden pse_660.004 von der bürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Der pse_660.005 aristokratisch gebundene Börries von Münchhausen gestaltet pse_660.006 in seinen Balladen ein anderes Weltbild als die Aristokraten des pse_660.007 17. Jahrhunderts in ihren Romanen. Das wirkt bis in die Art pse_660.008 der Überlieferung der Dichtung. Ob Dichtung mündlich pse_660.009 oder schriftlich weitergegeben wird, ist für den Gehalt nicht pse_660.010 unwesentlich. Zugleich liegen nicht immer dieselben gesellschaftlichen pse_660.011 Ursachen vor. Die mündlich überlieferte Dichtung pse_660.012 der alten Germanen war reine Adelsdichtung, die Bauerndichtung pse_660.013 der Sagas war bereits aufgeschrieben. Hier ist die pse_660.014 Einwirkung des antik-christlichen Kulturbereichs maßgebend. pse_660.015 Später wird die Adelsdichtung aufgeschrieben, nicht dagegen pse_660.016 so ausschließlich die der Fahrenden und Volkslieder. Bei diesen pse_660.017 engen Zusammenhängen werden sich auch Gesellschaftsumbildungen pse_660.018 und besonders -umbrüche in der Dichtung pse_660.019 deutlich bemerkbar machen. Man denke an die gesellschaftlichen pse_660.020 Wandlungen in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts pse_660.021 und ihre Auswirkungen auf den dichterischen Gehalt. pse_660.022 pse_660.023 Ebenso sind alle diese gesellschaftlichen Verhältnisse und pse_660.024 Wandlungen für die künstlerische Gestalt der Dichtung pse_660.025 wichtig. Jede Gesellschaftsklasse bildet ihre eigenen Kunstansichten pse_660.026 aus. Wie verschieden sind die Kunstanschauungen pse_660.027 der Höflinge und der Bürger im 17. Jahrhundert trotz aller pse_660.028 Einflüsse auf diese, und wie sehr hat sich die Einstellung zur pse_660.029 Kunst in der Bürgerwelt vom 18. ins 19. Jahrhundert gewandelt. pse_660.030 Daraus bildet sich jeweils ein bestimmter Geschmack. pse_660.031 Darunter wollen wir die Tatsache verstehen, daß die innerste, pse_660.032 gefühlsmäßige Einstellung zur Kunst unter Leitung des Verstandes pse_660.033 eine gewisse normierte Form annimmt. Wie diese pse_660.034 Einstellungen die künstlerische Form, den Stil bestimmen, pse_660.035 zeigt uns die Ritterdichtung, die französische Klassik, aber pse_660.036 auch der Naturalismus und jetzt der Realismus in Rußland. pse_660.037 Auch die Symbolsprache ist von daher bestimmt: einerseits pse_660.038 dadurch, welche Bilder aus welchen Bereichen Symbolwert

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/676
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 660. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/676>, abgerufen am 18.05.2024.