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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Eigenarten innerhalb mehrerer Künste zur gleichen Zeit, das pse_659.002
andere Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen Schöpfungen, pse_659.003
die aus gleicher Entwicklungslage der einzelnen Künste pse_659.004
hervorgehen. Dabei müssen sich Gleichzeitigkeit und Gleichstufigkeit pse_659.005
zeitlich nicht decken. Ursachen solcher Zusammenhänge pse_659.006
können sein: die Übermacht einer Kunst über andere, pse_659.007
Anregungen durch das Erlebnis eines Kunstwerks, gemeinsame pse_659.008
Stoffe. Maßgebend ist aber der gemeinsame Nährboden. Man pse_659.009
könnte von einem Kräfteparallelogramm aus Zeitgeist und pse_659.010
Volksgeist sprechen (Wais). Also auch hier wird die geschichtliche pse_659.011
Bedingtheit der Künste, auch der Dichtung, deutlich.

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Die menschlichen Gruppen von den ursprünglichsten pse_659.013
Lebensgemeinschaften bis zu den zweckgebundensten Gesellschaften pse_659.014
sind also in mannigfacher Hinsicht bedeutsam für pse_659.015
die Dichtung. Wenn diese Sichten hier angedeutet werden, pse_659.016
so müssen immer zugleich die zeitlichen Lagen mitgedacht pse_659.017
werden: die Volksgemeinschaft wirkt nicht immer mit der pse_659.018
gleichen Stärke im Bereich der Dichtung, ebensowenig einzelne pse_659.019
Stände oder Gesellschaftsklassen. Und die strukturelle pse_659.020
Verflechtung in der Wirksamkeit der einzelnen Gruppenformen, pse_659.021
welche überhaupt zusammenwirken, welche fehlen, pse_659.022
welche den Ton angeben, wechselt auch wieder in den verschiedenen pse_659.023
geschichtlichen Lagen.

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Die einzelnen menschlichen Gruppen sind jede für sich eine pse_659.025
Einheit aus Weltbild, Wertung und Bildungsstand: im pse_659.026
16. Jahrhundert etwa unterscheidet sich das Weltbild der pse_659.027
Geistlichen, der Bürger und der Gelehrten vielfach stark. pse_659.028
Deshalb stehen sie den einzelnen Kulturgegebenheiten auch pse_659.029
wertend anders gegenüber. Der Unterschied des Bildungsstandes pse_659.030
ergibt sich ohne weiteres. Aber auch in zeitlicher Folge: pse_659.031
das bürgerliche Weltbild des 19. Jahrhunderts hat mit dem des pse_659.032
15. Jahrhunderts nichts mehr zu tun, die Zeit des Naturalismus pse_659.033
wertete Dichtungen ganz anders als der Hofmann des pse_659.034
Barock, und der Bildungsstand der Gelehrten des Humanismus pse_659.035
unterscheidet sich grundlegend von dem der Naturwissenschaftler pse_659.036
von heute. Alle diese Tatsachen sind für die pse_659.037
Dichtung maßgebend. Diese zeitlich bestimmten Gruppen pse_659.038
bilden die weltanschauliche und wertungsmäßige Grundlage

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Eigenarten innerhalb mehrerer Künste zur gleichen Zeit, das pse_659.002
andere Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen Schöpfungen, pse_659.003
die aus gleicher Entwicklungslage der einzelnen Künste pse_659.004
hervorgehen. Dabei müssen sich Gleichzeitigkeit und Gleichstufigkeit pse_659.005
zeitlich nicht decken. Ursachen solcher Zusammenhänge pse_659.006
können sein: die Übermacht einer Kunst über andere, pse_659.007
Anregungen durch das Erlebnis eines Kunstwerks, gemeinsame pse_659.008
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könnte von einem Kräfteparallelogramm aus Zeitgeist und pse_659.010
Volksgeist sprechen (Wais). Also auch hier wird die geschichtliche pse_659.011
Bedingtheit der Künste, auch der Dichtung, deutlich.

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Die menschlichen Gruppen von den ursprünglichsten pse_659.013
Lebensgemeinschaften bis zu den zweckgebundensten Gesellschaften pse_659.014
sind also in mannigfacher Hinsicht bedeutsam für pse_659.015
die Dichtung. Wenn diese Sichten hier angedeutet werden, pse_659.016
so müssen immer zugleich die zeitlichen Lagen mitgedacht pse_659.017
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Stände oder Gesellschaftsklassen. Und die strukturelle pse_659.020
Verflechtung in der Wirksamkeit der einzelnen Gruppenformen, pse_659.021
welche überhaupt zusammenwirken, welche fehlen, pse_659.022
welche den Ton angeben, wechselt auch wieder in den verschiedenen pse_659.023
geschichtlichen Lagen.

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Die einzelnen menschlichen Gruppen sind jede für sich eine pse_659.025
Einheit aus Weltbild, Wertung und Bildungsstand: im pse_659.026
16. Jahrhundert etwa unterscheidet sich das Weltbild der pse_659.027
Geistlichen, der Bürger und der Gelehrten vielfach stark. pse_659.028
Deshalb stehen sie den einzelnen Kulturgegebenheiten auch pse_659.029
wertend anders gegenüber. Der Unterschied des Bildungsstandes pse_659.030
ergibt sich ohne weiteres. Aber auch in zeitlicher Folge: pse_659.031
das bürgerliche Weltbild des 19. Jahrhunderts hat mit dem des pse_659.032
15. Jahrhunderts nichts mehr zu tun, die Zeit des Naturalismus pse_659.033
wertete Dichtungen ganz anders als der Hofmann des pse_659.034
Barock, und der Bildungsstand der Gelehrten des Humanismus pse_659.035
unterscheidet sich grundlegend von dem der Naturwissenschaftler pse_659.036
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[659/0675] pse_659.001 Eigenarten innerhalb mehrerer Künste zur gleichen Zeit, das pse_659.002 andere Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen Schöpfungen, pse_659.003 die aus gleicher Entwicklungslage der einzelnen Künste pse_659.004 hervorgehen. Dabei müssen sich Gleichzeitigkeit und Gleichstufigkeit pse_659.005 zeitlich nicht decken. Ursachen solcher Zusammenhänge pse_659.006 können sein: die Übermacht einer Kunst über andere, pse_659.007 Anregungen durch das Erlebnis eines Kunstwerks, gemeinsame pse_659.008 Stoffe. Maßgebend ist aber der gemeinsame Nährboden. Man pse_659.009 könnte von einem Kräfteparallelogramm aus Zeitgeist und pse_659.010 Volksgeist sprechen (Wais). Also auch hier wird die geschichtliche pse_659.011 Bedingtheit der Künste, auch der Dichtung, deutlich. pse_659.012 Die menschlichen Gruppen von den ursprünglichsten pse_659.013 Lebensgemeinschaften bis zu den zweckgebundensten Gesellschaften pse_659.014 sind also in mannigfacher Hinsicht bedeutsam für pse_659.015 die Dichtung. Wenn diese Sichten hier angedeutet werden, pse_659.016 so müssen immer zugleich die zeitlichen Lagen mitgedacht pse_659.017 werden: die Volksgemeinschaft wirkt nicht immer mit der pse_659.018 gleichen Stärke im Bereich der Dichtung, ebensowenig einzelne pse_659.019 Stände oder Gesellschaftsklassen. Und die strukturelle pse_659.020 Verflechtung in der Wirksamkeit der einzelnen Gruppenformen, pse_659.021 welche überhaupt zusammenwirken, welche fehlen, pse_659.022 welche den Ton angeben, wechselt auch wieder in den verschiedenen pse_659.023 geschichtlichen Lagen. pse_659.024 Die einzelnen menschlichen Gruppen sind jede für sich eine pse_659.025 Einheit aus Weltbild, Wertung und Bildungsstand: im pse_659.026 16. Jahrhundert etwa unterscheidet sich das Weltbild der pse_659.027 Geistlichen, der Bürger und der Gelehrten vielfach stark. pse_659.028 Deshalb stehen sie den einzelnen Kulturgegebenheiten auch pse_659.029 wertend anders gegenüber. Der Unterschied des Bildungsstandes pse_659.030 ergibt sich ohne weiteres. Aber auch in zeitlicher Folge: pse_659.031 das bürgerliche Weltbild des 19. Jahrhunderts hat mit dem des pse_659.032 15. Jahrhunderts nichts mehr zu tun, die Zeit des Naturalismus pse_659.033 wertete Dichtungen ganz anders als der Hofmann des pse_659.034 Barock, und der Bildungsstand der Gelehrten des Humanismus pse_659.035 unterscheidet sich grundlegend von dem der Naturwissenschaftler pse_659.036 von heute. Alle diese Tatsachen sind für die pse_659.037 Dichtung maßgebend. Diese zeitlich bestimmten Gruppen pse_659.038 bilden die weltanschauliche und wertungsmäßige Grundlage

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/675>, abgerufen am 18.05.2024.