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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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I pse_655.002
DIE DICHTUNG IM RAHMEN pse_655.003
DER GESCHICHTLICHEN LAGE
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Grundsätzliches

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Jede Dichtung ist in zweifacher Weise mit der geschichtlichen pse_655.006
Lage, aus der sie kommt, verbunden. Sie erwächst dadurch, pse_655.007
daß ein Mensch sie schafft, gleichsam aus dem Muttergrund pse_655.008
einer geschichtlichen Situation. Denn der Mensch ist ja pse_655.009
in der mannigfachsten Weise selbst an Raum, Gemeinschaften pse_655.010
und Zeit gebunden. Diese Kräfte wirken auf seine tiefsten pse_655.011
Schichten, aus denen das Kunstwerk emporsteigt, auch ein. So pse_655.012
ist in gewissem Sinne jede Dichtung geschichtlich gewirkt. Zugleich pse_655.013
aber kann jede Dichtung grundsätzlich in diese geschichtliche pse_655.014
Lage hineinwirken. Das muß nicht immer eine pse_655.015
rein künstlerische Wirkung sein. In den Frühzeiten menschlicher pse_655.016
Gemeinschaften war es wohl meist eine magischreligiöse, pse_655.017
denn durch sie wird dem Menschen eine "Hinterwelt" pse_655.018
vermittelt. Von solchen Hinterwelten aus erleben wir pse_655.019
ja auch die Fülle sinnlicher Gegebenheiten um uns. Vater, pse_655.020
Mutter, Liebespartner, Herrscher, Polizei, Gesetze usw. sind pse_655.021
nicht bloß sinnliche Gegebenheiten einer Wirklichkeit, sondern pse_655.022
werden von uns, wenn wir ihnen begegnen, tiefer gedeutet, pse_655.023
als Sinn- oder Machtträger mannigfachster Weise. pse_655.024
Genau so sind auch zunächst die Wirkungen der Kunstwerke. pse_655.025
Auch sie deutet der Mensch aus dem Hintergrund her. So pse_655.026
könnte man die erste Wirkung der Kunst als magische Vergegenwärtigung pse_655.027
bezeichnen. Erst später, auf weiter entwickelter pse_655.028
Kulturstufe, kommt es dann langsam zum reinen ästhetischen pse_655.029
Erleben der Kunstwerke. Beide Arten, den Kunstwerken pse_655.030
zu begegnen, bedeuten aber, daß Kunstwerke auf pse_655.031
Menschen und damit in geschichtliche Situationen hinein pse_655.032
wirken.

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DIE DICHTUNG IM RAHMEN pse_655.003
DER GESCHICHTLICHEN LAGE
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Grundsätzliches

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Jede Dichtung ist in zweifacher Weise mit der geschichtlichen pse_655.006
Lage, aus der sie kommt, verbunden. Sie erwächst dadurch, pse_655.007
daß ein Mensch sie schafft, gleichsam aus dem Muttergrund pse_655.008
einer geschichtlichen Situation. Denn der Mensch ist ja pse_655.009
in der mannigfachsten Weise selbst an Raum, Gemeinschaften pse_655.010
und Zeit gebunden. Diese Kräfte wirken auf seine tiefsten pse_655.011
Schichten, aus denen das Kunstwerk emporsteigt, auch ein. So pse_655.012
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Lage hineinwirken. Das muß nicht immer eine pse_655.015
rein künstlerische Wirkung sein. In den Frühzeiten menschlicher pse_655.016
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vermittelt. Von solchen Hinterwelten aus erleben wir pse_655.019
ja auch die Fülle sinnlicher Gegebenheiten um uns. Vater, pse_655.020
Mutter, Liebespartner, Herrscher, Polizei, Gesetze usw. sind pse_655.021
nicht bloß sinnliche Gegebenheiten einer Wirklichkeit, sondern pse_655.022
werden von uns, wenn wir ihnen begegnen, tiefer gedeutet, pse_655.023
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Genau so sind auch zunächst die Wirkungen der Kunstwerke. pse_655.025
Auch sie deutet der Mensch aus dem Hintergrund her. So pse_655.026
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bezeichnen. Erst später, auf weiter entwickelter pse_655.028
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Erleben der Kunstwerke. Beide Arten, den Kunstwerken pse_655.030
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/671>, abgerufen am 23.05.2024.