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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002
Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003
ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004
das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005
ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006
ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007
Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008
nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009
ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010
gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011
sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012
Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013
Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014
Dichtung in gleicher Weise aus.

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Der Mensch als Schöpfer

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Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017
Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018
bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019
menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020
auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021
Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022
Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023
der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024
Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025
sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026
vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027
Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028
In Goethes "Tasso" sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029
geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030
grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit pse_656.031
des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032
zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033
fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034
Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. pse_656.035
Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit

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Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002
Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003
ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004
das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005
ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006
ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007
Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008
nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009
ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010
gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011
sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012
Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013
Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014
Dichtung in gleicher Weise aus.

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Der Mensch als Schöpfer

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Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017
Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018
bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019
menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020
auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021
Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022
Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023
der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024
Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025
sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026
vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027
Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028
In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029
geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030
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des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032
zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033
fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034
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[656/0672] pse_656.001 Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002 Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003 ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004 das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005 ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006 ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007 Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008 nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009 ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010 gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011 sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012 Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013 Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014 Dichtung in gleicher Weise aus. pse_656.015 Der Mensch als Schöpfer pse_656.016 Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017 Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018 bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019 menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020 auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021 Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022 Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023 der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024 Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025 sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026 vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027 Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028 In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029 geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030 grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit pse_656.031 des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032 zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033 fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034 Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. pse_656.035 Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/672>, abgerufen am 22.05.2024.