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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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trübt sich ihr Selbstverständnis, sie kennt sich über sich selbst pse_648.002
nicht mehr aus wie Amphitryon und offenbart in dieser pse_648.003
komischen Situation auch tragische Züge, weil sie innerliche pse_648.004
Größe hat; eine edle hohe Gestalt wie Alkmene gerät in Lagen, pse_648.005
wo die Umwelt sie in komischem Lichte sehen muß. Diese pse_648.006
Bauformen könnten auch an anderen Tragikomödien gezeigt pse_648.007
werden (Molieres "George Dandin" und "Misanthrope", pse_648.008
Rostands "Cyrano"). Erschütterung und Entlarvung schließen pse_648.009
sich in solchen Tragikomödien zu einer Einheit zusammen, pse_648.010
und so entsteht eine dichterische Weltauffassung von besonderer pse_648.011
Eigenart.

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Das Wesen des Lustspiels ist aus der Haltung des Humors zu pse_648.013
verstehen. Selbstverständlich werden sich auch im Lustspiel pse_648.014
oft komische Züge finden, wie auch die ernsten und tragischen pse_648.015
nicht immer fehlen müssen. Aber das Entscheidende ist doch, pse_648.016
daß da eine Welt vor uns ersteht, die aus einer gehobenen pse_648.017
Weite des Blicks und aus einer daraus erfließenden Heiterkeit pse_648.018
gesehen wird. Die Klippe für das Lustspiel ist die Tatsache, pse_648.019
daß gerade solche weltüberblickende Heiterkeit leicht die pse_648.020
Urgespaltenheit der Welt zu überwinden vermag, daß von pse_648.021
der hohen Warte aus die Kämpfe und Spannungen der irdischen pse_648.022
Welt ihr Bedrängendes verlieren, daß wir sie als klein pse_648.023
und schon beinahe liebenswürdig, zumindest als verzeihlich pse_648.024
belächeln. So schreitet das Lustspiel auf scharfem Grat zwischen pse_648.025
der Komödie oder der epischen Sicht. Wohl deshalb pse_648.026
gibt es so wenige große Lustspiele bei der großen Zahl pse_648.027
meisterhafter Komödien. Denn der Dichter eines Lustspiels pse_648.028
muß das Dramatische mit dem Humor und dem Heiteren pse_648.029
verbinden. Man möchte sagen: nur in ganz begnadeten pse_648.030
Augenblicken kann das gelingen.

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Deutlich lassen sich stimmungsmäßig zwei Arten von Lustspielen pse_648.032
unterscheiden: das eine ist das derb-vitale. Es ist ein pse_648.033
Spiel aus überschäumender Lebensfreude, die noch vor tragischen pse_648.034
Lebenserfahrungen liegen mag, aber auch nach solchen pse_648.035
wieder errungen sein kann. Solche zweite Möglichkeit ist pse_648.036
gewichtiger, tiefer, welterhellender. Shakespeares Lustspiele pse_648.037
sind Meisterwerke dieser Art. Daß sie vielfach durch das pse_648.038
Tragische durchgegangen sind, zeigt der "Kaufmann von

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trübt sich ihr Selbstverständnis, sie kennt sich über sich selbst pse_648.002
nicht mehr aus wie Amphitryon und offenbart in dieser pse_648.003
komischen Situation auch tragische Züge, weil sie innerliche pse_648.004
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Rostands »Cyrano«). Erschütterung und Entlarvung schließen pse_648.009
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Eigenart.

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Das Wesen des Lustspiels ist aus der Haltung des Humors zu pse_648.013
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oft komische Züge finden, wie auch die ernsten und tragischen pse_648.015
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Weite des Blicks und aus einer daraus erfließenden Heiterkeit pse_648.018
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Welt ihr Bedrängendes verlieren, daß wir sie als klein pse_648.023
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belächeln. So schreitet das Lustspiel auf scharfem Grat zwischen pse_648.025
der Komödie oder der epischen Sicht. Wohl deshalb pse_648.026
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muß das Dramatische mit dem Humor und dem Heiteren pse_648.029
verbinden. Man möchte sagen: nur in ganz begnadeten pse_648.030
Augenblicken kann das gelingen.

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Deutlich lassen sich stimmungsmäßig zwei Arten von Lustspielen pse_648.032
unterscheiden: das eine ist das derb-vitale. Es ist ein pse_648.033
Spiel aus überschäumender Lebensfreude, die noch vor tragischen pse_648.034
Lebenserfahrungen liegen mag, aber auch nach solchen pse_648.035
wieder errungen sein kann. Solche zweite Möglichkeit ist pse_648.036
gewichtiger, tiefer, welterhellender. Shakespeares Lustspiele pse_648.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 648. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/664>, abgerufen am 18.05.2024.