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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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haben wir schon einiges gesagt (S. 103 f.). Demnach ist uns die pse_647.002
Tragikomödie ein Drama, in dem tragische und komische pse_647.003
Elemente verbunden sind, und zwar so, daß die komischen pse_647.004
nicht als Einlagen, wie eben in Shakespeares Tragödien, bezeichnet pse_647.005
werden können. Das scharfe Aneinanderstoßen pse_647.006
tragischer und komischer Sichten kann Ausdruck innerer Unruhe pse_647.007
und Zerrissenheit des auffassenden Menschen sein, aber pse_647.008
auch Zeichen der Fülle der Welt, die zugleich aus verschiedensten pse_647.009
Haltungen erfahren werden kann. Entscheidend für pse_647.010
die tiefere Tragikomödie ist einmal der Umschlag aus dem pse_647.011
Komischen in die Erschütterung, aus der Erhabenheit in die pse_647.012
Entlarvung. Es erscheint da die Welt als Schein, der zerstört pse_647.013
wird: das Tragische wird als Erhabenes entlarvt, das Komische pse_647.014
stößt in das Erschütternde vor. Es kann aber auch mehr pse_647.015
folgende Doppelsicht vorherrschen: ein Vorgang, eine Gestalt pse_647.016
bietet tragische und komische Seiten zugleich und offenbart pse_647.017
damit eine geradezu unheimliche Seite an der Weltstruktur. pse_647.018
Die Art tragikomischer Entlarvung hat W. v. pse_647.019
Scholz an Shakespeares "Troilus und Cressida" herausgestellt. pse_647.020
"Es ist das Wesen der Tragikomödie, daß sie fortwährend pse_647.021
Lebenstäuschungen zerstört: die tragischen erhabenen, die das pse_647.022
Dasein und den Menschen zu wichtig nehmen, mit den dazwischen pse_647.023
geworfenen komischen Teilen, und die komischheiteren, pse_647.024
die allein sonnige Leichtigkeit vorspiegeln würden, pse_647.025
indem sie sie in die Umwelt des Tragischen stellt, das so zu pse_647.026
schmerzlicher Verzweiflung wird, während das Komische pse_647.027
durch diese Nachbarschaft Züge scharfen Hohnes und Spottes pse_647.028
bekommt. Hier wie dort ist das Wesen der Tragikomödie: pse_647.029
Zerstörung des angenehmen Truges und des Gewohnten." pse_647.030
Das unheimliche tragische und komische Doppelgesicht der pse_647.031
Welt, wo es weniger auf Zerstörung des Trugs ankommt, pse_647.032
erkennt man neuerdings an Kleists "Amphitryon". Hier wirkt pse_647.033
sich das Tragikomische in vierfacher Weise aus, und es offenbaren pse_647.034
sich damit zugleich Möglichkeiten tragikomischen Gestaltens. pse_647.035
Die komische Dienerhandlung beleuchtet die geheime pse_647.036
Komik auch des Hauptvorgangs; eine Gestalt weist pse_647.037
innere Widersprüche auf wie Jupiter, die sie zu einer komischen pse_647.038
und tragischen Figur zugleich machen; einer Gestalt

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haben wir schon einiges gesagt (S. 103 f.). Demnach ist uns die pse_647.002
Tragikomödie ein Drama, in dem tragische und komische pse_647.003
Elemente verbunden sind, und zwar so, daß die komischen pse_647.004
nicht als Einlagen, wie eben in Shakespeares Tragödien, bezeichnet pse_647.005
werden können. Das scharfe Aneinanderstoßen pse_647.006
tragischer und komischer Sichten kann Ausdruck innerer Unruhe pse_647.007
und Zerrissenheit des auffassenden Menschen sein, aber pse_647.008
auch Zeichen der Fülle der Welt, die zugleich aus verschiedensten pse_647.009
Haltungen erfahren werden kann. Entscheidend für pse_647.010
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/663>, abgerufen am 18.05.2024.