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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Banquo:    Der Sommergast, pse_603.002
Die Schwalbe, die an Tempeln wohnt, beweist pse_603.003
Durch ihr geliebtes Nest, daß Himmelshauch pse_603.004
Hier buhlend weht; kein Dächlein, Pfeiler, Fries, pse_603.005
Kein Eckchen, wo der Vogel nicht gebaut pse_603.006
Sein hängend Haus und Kinderbett. Wo er pse_603.007
Gern heckt und nistet, hab ich stets bemerkt, pse_603.008
Ist mild die Luft.
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Mit größter Eindringlichkeit stellt dieses Bild die heile Ordnung pse_603.010
den furchtbaren Störungen entgegen. Vorgang und pse_603.011
Sinn des Dramas sind hier symbolhaft verdichtet. In Schillers pse_603.012
Dramen werden immer wieder zwei Bereiche auch in sprachlichen pse_603.013
Symbolen einander gegenübergestellt: auf der einen pse_603.014
Seite das Hohe, Schöne, Lichte, der Himmel und das Paradies, pse_603.015
auf der anderen das Niedere, Häßliche, Dunkle, die Hölle.

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Das Ganze als wirkende Gestalt

pse_603.017
Über all den vielen einzelnen Schichten, Gliedern, Gestaltungskräften pse_603.018
darf man nicht vergessen, daß jede echte pse_603.019
dramatische Dichtung eine höhere Einheit darstellt. Denn zunächst pse_603.020
einmal schließen sich alle die besprochenen Züge zu pse_603.021
einer Gestalt zusammen, in der erst alles einzelne Sinn und Aufgabe pse_603.022
erhält, die aber nur durch diese Glieder und Kräfte pse_603.023
Wirklichkeit wird. In dreifach aufsteigender Stufung wird pse_603.024
ein solches Drama dichterische Wirklichkeit: Aus dem Wesen pse_603.025
des Dramatischen baut sich ein Gewebe von Urgespaltenheit, pse_603.026
Gespanntheit und Darstellung auf; es verdichtet sich in pse_603.027
einem einmaligen Vorgang; im künstlerischen Gefüge der pse_603.028
Glieder, im Bau und in der sprachkünstlerischen Durchbildung pse_603.029
entsteht die Ganzheit der Dichtung. Und endlich ist pse_603.030
die Einheit im tiefsten im bestimmten menschlichen Schöpfertum pse_603.031
verankert. Ein "Ödipus", ein "Macbeth", ein "Tasso", pse_603.032
ein "Wallenstein", eine "Penthesilea", ein "Bruderzwist" sind pse_603.033
im letzten so verschieden voneinander, weil ein schöpferischer pse_603.034
Mensch aus einer ganz bestimmten geschichtlichen pse_603.035
Lage heraus sie aus seinen geheimnisvollen Kräften heraus pse_603.036
geformt hat. Dieses Menschentum spaltet sich gleichsam in pse_603.037
die vielen Personen auf, die im Drama einander gegenübertreten

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Die Schwalbe, die an Tempeln wohnt, beweist pse_603.003
Durch ihr geliebtes Nest, daß Himmelshauch pse_603.004
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Sein hängend Haus und Kinderbett. Wo er pse_603.007
Gern heckt und nistet, hab ich stets bemerkt, pse_603.008
Ist mild die Luft.
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den furchtbaren Störungen entgegen. Vorgang und pse_603.011
Sinn des Dramas sind hier symbolhaft verdichtet. In Schillers pse_603.012
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Symbolen einander gegenübergestellt: auf der einen pse_603.014
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auf der anderen das Niedere, Häßliche, Dunkle, die Hölle.

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Das Ganze als wirkende Gestalt

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Über all den vielen einzelnen Schichten, Gliedern, Gestaltungskräften pse_603.018
darf man nicht vergessen, daß jede echte pse_603.019
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einer Gestalt zusammen, in der erst alles einzelne Sinn und Aufgabe pse_603.022
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Wirklichkeit wird. In dreifach aufsteigender Stufung wird pse_603.024
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des Dramatischen baut sich ein Gewebe von Urgespaltenheit, pse_603.026
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[603/0619] pse_603.001 Banquo: Der Sommergast, pse_603.002 Die Schwalbe, die an Tempeln wohnt, beweist pse_603.003 Durch ihr geliebtes Nest, daß Himmelshauch pse_603.004 Hier buhlend weht; kein Dächlein, Pfeiler, Fries, pse_603.005 Kein Eckchen, wo der Vogel nicht gebaut pse_603.006 Sein hängend Haus und Kinderbett. Wo er pse_603.007 Gern heckt und nistet, hab ich stets bemerkt, pse_603.008 Ist mild die Luft. pse_603.009 Mit größter Eindringlichkeit stellt dieses Bild die heile Ordnung pse_603.010 den furchtbaren Störungen entgegen. Vorgang und pse_603.011 Sinn des Dramas sind hier symbolhaft verdichtet. In Schillers pse_603.012 Dramen werden immer wieder zwei Bereiche auch in sprachlichen pse_603.013 Symbolen einander gegenübergestellt: auf der einen pse_603.014 Seite das Hohe, Schöne, Lichte, der Himmel und das Paradies, pse_603.015 auf der anderen das Niedere, Häßliche, Dunkle, die Hölle. pse_603.016 Das Ganze als wirkende Gestalt pse_603.017 Über all den vielen einzelnen Schichten, Gliedern, Gestaltungskräften pse_603.018 darf man nicht vergessen, daß jede echte pse_603.019 dramatische Dichtung eine höhere Einheit darstellt. Denn zunächst pse_603.020 einmal schließen sich alle die besprochenen Züge zu pse_603.021 einer Gestalt zusammen, in der erst alles einzelne Sinn und Aufgabe pse_603.022 erhält, die aber nur durch diese Glieder und Kräfte pse_603.023 Wirklichkeit wird. In dreifach aufsteigender Stufung wird pse_603.024 ein solches Drama dichterische Wirklichkeit: Aus dem Wesen pse_603.025 des Dramatischen baut sich ein Gewebe von Urgespaltenheit, pse_603.026 Gespanntheit und Darstellung auf; es verdichtet sich in pse_603.027 einem einmaligen Vorgang; im künstlerischen Gefüge der pse_603.028 Glieder, im Bau und in der sprachkünstlerischen Durchbildung pse_603.029 entsteht die Ganzheit der Dichtung. Und endlich ist pse_603.030 die Einheit im tiefsten im bestimmten menschlichen Schöpfertum pse_603.031 verankert. Ein »Ödipus«, ein »Macbeth«, ein »Tasso«, pse_603.032 ein »Wallenstein«, eine »Penthesilea«, ein »Bruderzwist« sind pse_603.033 im letzten so verschieden voneinander, weil ein schöpferischer pse_603.034 Mensch aus einer ganz bestimmten geschichtlichen pse_603.035 Lage heraus sie aus seinen geheimnisvollen Kräften heraus pse_603.036 geformt hat. Dieses Menschentum spaltet sich gleichsam in pse_603.037 die vielen Personen auf, die im Drama einander gegenübertreten

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/619>, abgerufen am 18.05.2024.