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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002
haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die pse_592.003
Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004
Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005
das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006
abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007
Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes "Egmont"; pse_592.008
in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009
Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010
wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011
("Tell"). Sie hat also mannigfache Aufgaben.

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Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013
sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014
und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015
in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016
Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. pse_592.017
Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018
Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019
Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin pse_592.020
offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021
Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022
Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023
Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024
auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025
Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026
enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027
Handlung: so in "Antigone", "Ödipus", in Shakespeares pse_592.028
"Cäsar", in "Maria Stuart". Die Menschen werden pse_592.029
in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen pse_592.030
darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031
Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032
die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033
Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034
Handlung und Personen werden zu dichterischen pse_592.035
Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036
eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den pse_592.037
eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038
in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits --

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Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002
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Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004
Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005
das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006
abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007
Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«; pse_592.008
in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009
Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010
wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011
(»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben.

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Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013
sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014
und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015
in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016
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Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018
Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019
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offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021
Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022
Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023
Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024
auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025
Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026
enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027
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»Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden pse_592.029
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darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031
Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032
die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033
Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034
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Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036
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eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038
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[592/0608] pse_592.001 Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002 haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die pse_592.003 Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004 Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005 das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006 abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007 Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«; pse_592.008 in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009 Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010 wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011 (»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben. pse_592.012 Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013 sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014 und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015 in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016 Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. pse_592.017 Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018 Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019 Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin pse_592.020 offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021 Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022 Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023 Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024 auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025 Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026 enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027 Handlung: so in »Antigone«, »Ödipus«, in Shakespeares pse_592.028 »Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden pse_592.029 in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen pse_592.030 darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031 Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032 die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033 Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034 Handlung und Personen werden zu dichterischen pse_592.035 Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036 eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den pse_592.037 eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038 in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits —

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/608>, abgerufen am 22.11.2024.