Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_593.001
Jenseits. Wir finden solche Art in den Dramen Calderons, im pse_593.002
späten Shakespeare ("Sturm"), aber auch bei Anouilh, Sartre, pse_593.003
T. S. Eliot, Claudel.

pse_593.004
Gestaltungskräfte

pse_593.005
Im großen Unterschied zur Epik gibt es in der Dramatik pse_593.006
Teile, die nicht sprachlich gestaltet sind. Dafür tritt das Spiel pse_593.007
auf der Bühne ein. Mit dieser Tatsache betreten wir das Gebiet, pse_593.008
das teilweise über die Dichtung hinausführt. Die Bühne pse_593.009
ist heute tatsächlich für die Form eines großen Teils aller pse_593.010
dramatischen Dichtung wesentlich. Aber eine völlige Deckung pse_593.011
zwischen Dramatischem und Bühnendarstellung besteht nicht. pse_593.012
Vor allem ist wichtig, daß die Bühne auch in der Vorstellung pse_593.013
des Lesers wirkt, ohne daß es zur Realisierung kommt. Die pse_593.014
einfachste Bühnenanweisung schafft eine Raumvorstellung. pse_593.015
Die Bühnenanweisung zum Raum ruft in Dramen wie "Iphigenie", pse_593.016
"Tasso" und "Wallenstein" je ganz andere Raumbilder pse_593.017
und damit verbundene Stimmungen hervor. Aus der geschichtlichen pse_593.018
Wurzel und aus dem Wesen ergeben sich zwei pse_593.019
Gruppen von Gestaltungskräften: das Schaubare und das pse_593.020
Hörbare, hier vor allem die Sprache.

pse_593.021
1. Da wir hier das Drama als Dichtung betrachten, seien die pse_593.022
Kräfte des Schaubaren nur kurz gestreift. Zunächst spielt schon pse_593.023
der feststehende Rahmen eine Rolle. Der Bühnenraum, wie pse_593.024
ihn der Dichter andeutet und wie er dem Drama eine bestimmte pse_593.025
Färbung gibt, kann eine offene Landschaft im allgemeinen pse_593.026
darstellen. Aber auch hier verschiedene Formen: pse_593.027
weihevolle Haine, weite Architektonik, reichgegliederte pse_593.028
Naturbilder usw. Der Bühnenraum kann auch geschlossen pse_593.029
sein, meist ein Zimmer. Das verengt den Raum und wirkt sich pse_593.030
aufs Dramatische aus. Freilich können Blicke aus dem Raum pse_593.031
ins Freie wirksam werden, so etwa besonders in der "Erde" pse_593.032
Karl Schönherrs, wo durch die Fenster der Wandel der Jahreszeiten pse_593.033
in den engen Bauernraum hineinwirkt. Sowohl offene pse_593.034
als auch geschlossene Räume können eng und weit sein: eine pse_593.035
ärmliche Stube neben einem Festsaal, eine Schlucht neben pse_593.036
einer weiten Ebene. Im klassischen Drama konzentrieren sich pse_593.037
alle sprachlichen Angaben nur auf den einen Raum, er wird

pse_593.001
Jenseits. Wir finden solche Art in den Dramen Calderóns, im pse_593.002
späten Shakespeare (»Sturm«), aber auch bei Anouilh, Sartre, pse_593.003
T. S. Eliot, Claudel.

pse_593.004
Gestaltungskräfte

pse_593.005
Im großen Unterschied zur Epik gibt es in der Dramatik pse_593.006
Teile, die nicht sprachlich gestaltet sind. Dafür tritt das Spiel pse_593.007
auf der Bühne ein. Mit dieser Tatsache betreten wir das Gebiet, pse_593.008
das teilweise über die Dichtung hinausführt. Die Bühne pse_593.009
ist heute tatsächlich für die Form eines großen Teils aller pse_593.010
dramatischen Dichtung wesentlich. Aber eine völlige Deckung pse_593.011
zwischen Dramatischem und Bühnendarstellung besteht nicht. pse_593.012
Vor allem ist wichtig, daß die Bühne auch in der Vorstellung pse_593.013
des Lesers wirkt, ohne daß es zur Realisierung kommt. Die pse_593.014
einfachste Bühnenanweisung schafft eine Raumvorstellung. pse_593.015
Die Bühnenanweisung zum Raum ruft in Dramen wie »Iphigenie«, pse_593.016
»Tasso« und »Wallenstein« je ganz andere Raumbilder pse_593.017
und damit verbundene Stimmungen hervor. Aus der geschichtlichen pse_593.018
Wurzel und aus dem Wesen ergeben sich zwei pse_593.019
Gruppen von Gestaltungskräften: das Schaubare und das pse_593.020
Hörbare, hier vor allem die Sprache.

pse_593.021
1. Da wir hier das Drama als Dichtung betrachten, seien die pse_593.022
Kräfte des Schaubaren nur kurz gestreift. Zunächst spielt schon pse_593.023
der feststehende Rahmen eine Rolle. Der Bühnenraum, wie pse_593.024
ihn der Dichter andeutet und wie er dem Drama eine bestimmte pse_593.025
Färbung gibt, kann eine offene Landschaft im allgemeinen pse_593.026
darstellen. Aber auch hier verschiedene Formen: pse_593.027
weihevolle Haine, weite Architektonik, reichgegliederte pse_593.028
Naturbilder usw. Der Bühnenraum kann auch geschlossen pse_593.029
sein, meist ein Zimmer. Das verengt den Raum und wirkt sich pse_593.030
aufs Dramatische aus. Freilich können Blicke aus dem Raum pse_593.031
ins Freie wirksam werden, so etwa besonders in der »Erde« pse_593.032
Karl Schönherrs, wo durch die Fenster der Wandel der Jahreszeiten pse_593.033
in den engen Bauernraum hineinwirkt. Sowohl offene pse_593.034
als auch geschlossene Räume können eng und weit sein: eine pse_593.035
ärmliche Stube neben einem Festsaal, eine Schlucht neben pse_593.036
einer weiten Ebene. Im klassischen Drama konzentrieren sich pse_593.037
alle sprachlichen Angaben nur auf den einen Raum, er wird

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0609" n="593"/><lb n="pse_593.001"/>
Jenseits. Wir finden solche Art in den Dramen Calderóns, im <lb n="pse_593.002"/>
späten Shakespeare (»Sturm«), aber auch bei Anouilh, Sartre, <lb n="pse_593.003"/>
T. S. Eliot, Claudel.</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pse_593.004"/>
              <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Gestaltungskräfte</hi> </hi> </head>
              <p><lb n="pse_593.005"/>
Im großen Unterschied zur Epik gibt es in der Dramatik <lb n="pse_593.006"/>
Teile, die nicht sprachlich gestaltet sind. Dafür tritt das Spiel <lb n="pse_593.007"/>
auf der Bühne ein. Mit dieser Tatsache betreten wir das Gebiet, <lb n="pse_593.008"/>
das teilweise über die Dichtung hinausführt. Die Bühne <lb n="pse_593.009"/>
ist heute tatsächlich für die Form eines großen Teils aller <lb n="pse_593.010"/>
dramatischen Dichtung wesentlich. Aber eine völlige Deckung <lb n="pse_593.011"/>
zwischen Dramatischem und Bühnendarstellung besteht nicht. <lb n="pse_593.012"/>
Vor allem ist wichtig, daß die Bühne auch in der Vorstellung <lb n="pse_593.013"/>
des Lesers wirkt, ohne daß es zur Realisierung kommt. Die <lb n="pse_593.014"/>
einfachste Bühnenanweisung schafft eine Raumvorstellung. <lb n="pse_593.015"/>
Die Bühnenanweisung zum Raum ruft in Dramen wie »Iphigenie«, <lb n="pse_593.016"/>
»Tasso« und »Wallenstein« je ganz andere Raumbilder <lb n="pse_593.017"/>
und damit verbundene Stimmungen hervor. Aus der geschichtlichen <lb n="pse_593.018"/>
Wurzel und aus dem Wesen ergeben sich zwei <lb n="pse_593.019"/>
Gruppen von Gestaltungskräften: das Schaubare und das <lb n="pse_593.020"/>
Hörbare, hier vor allem die Sprache.</p>
              <p><lb n="pse_593.021"/>
1. Da wir hier das Drama als Dichtung betrachten, seien die <lb n="pse_593.022"/>
Kräfte des <hi rendition="#i">Schaubaren</hi> nur kurz gestreift. Zunächst spielt schon <lb n="pse_593.023"/>
der feststehende Rahmen eine Rolle. Der Bühnenraum, wie <lb n="pse_593.024"/>
ihn der Dichter andeutet und wie er dem Drama eine bestimmte <lb n="pse_593.025"/>
Färbung gibt, kann eine offene Landschaft im allgemeinen <lb n="pse_593.026"/>
darstellen. Aber auch hier verschiedene Formen: <lb n="pse_593.027"/>
weihevolle Haine, weite Architektonik, reichgegliederte <lb n="pse_593.028"/>
Naturbilder usw. Der Bühnenraum kann auch geschlossen <lb n="pse_593.029"/>
sein, meist ein Zimmer. Das verengt den Raum und wirkt sich <lb n="pse_593.030"/>
aufs Dramatische aus. Freilich können Blicke aus dem Raum <lb n="pse_593.031"/>
ins Freie wirksam werden, so etwa besonders in der »Erde« <lb n="pse_593.032"/>
Karl Schönherrs, wo durch die Fenster der Wandel der Jahreszeiten <lb n="pse_593.033"/>
in den engen Bauernraum hineinwirkt. Sowohl offene <lb n="pse_593.034"/>
als auch geschlossene Räume können eng und weit sein: eine <lb n="pse_593.035"/>
ärmliche Stube neben einem Festsaal, eine Schlucht neben <lb n="pse_593.036"/>
einer weiten Ebene. Im klassischen Drama konzentrieren sich <lb n="pse_593.037"/>
alle sprachlichen Angaben nur auf den einen Raum, er wird
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[593/0609] pse_593.001 Jenseits. Wir finden solche Art in den Dramen Calderóns, im pse_593.002 späten Shakespeare (»Sturm«), aber auch bei Anouilh, Sartre, pse_593.003 T. S. Eliot, Claudel. pse_593.004 Gestaltungskräfte pse_593.005 Im großen Unterschied zur Epik gibt es in der Dramatik pse_593.006 Teile, die nicht sprachlich gestaltet sind. Dafür tritt das Spiel pse_593.007 auf der Bühne ein. Mit dieser Tatsache betreten wir das Gebiet, pse_593.008 das teilweise über die Dichtung hinausführt. Die Bühne pse_593.009 ist heute tatsächlich für die Form eines großen Teils aller pse_593.010 dramatischen Dichtung wesentlich. Aber eine völlige Deckung pse_593.011 zwischen Dramatischem und Bühnendarstellung besteht nicht. pse_593.012 Vor allem ist wichtig, daß die Bühne auch in der Vorstellung pse_593.013 des Lesers wirkt, ohne daß es zur Realisierung kommt. Die pse_593.014 einfachste Bühnenanweisung schafft eine Raumvorstellung. pse_593.015 Die Bühnenanweisung zum Raum ruft in Dramen wie »Iphigenie«, pse_593.016 »Tasso« und »Wallenstein« je ganz andere Raumbilder pse_593.017 und damit verbundene Stimmungen hervor. Aus der geschichtlichen pse_593.018 Wurzel und aus dem Wesen ergeben sich zwei pse_593.019 Gruppen von Gestaltungskräften: das Schaubare und das pse_593.020 Hörbare, hier vor allem die Sprache. pse_593.021 1. Da wir hier das Drama als Dichtung betrachten, seien die pse_593.022 Kräfte des Schaubaren nur kurz gestreift. Zunächst spielt schon pse_593.023 der feststehende Rahmen eine Rolle. Der Bühnenraum, wie pse_593.024 ihn der Dichter andeutet und wie er dem Drama eine bestimmte pse_593.025 Färbung gibt, kann eine offene Landschaft im allgemeinen pse_593.026 darstellen. Aber auch hier verschiedene Formen: pse_593.027 weihevolle Haine, weite Architektonik, reichgegliederte pse_593.028 Naturbilder usw. Der Bühnenraum kann auch geschlossen pse_593.029 sein, meist ein Zimmer. Das verengt den Raum und wirkt sich pse_593.030 aufs Dramatische aus. Freilich können Blicke aus dem Raum pse_593.031 ins Freie wirksam werden, so etwa besonders in der »Erde« pse_593.032 Karl Schönherrs, wo durch die Fenster der Wandel der Jahreszeiten pse_593.033 in den engen Bauernraum hineinwirkt. Sowohl offene pse_593.034 als auch geschlossene Räume können eng und weit sein: eine pse_593.035 ärmliche Stube neben einem Festsaal, eine Schlucht neben pse_593.036 einer weiten Ebene. Im klassischen Drama konzentrieren sich pse_593.037 alle sprachlichen Angaben nur auf den einen Raum, er wird

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/609
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/609>, abgerufen am 18.05.2024.