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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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liegt vor, wenn zwei Hauptgestalten auftreten. Es handelt pse_590.002
sich nicht um den Gegner des Helden, denn der ist ihm pse_590.003
aus der Struktur des Dramas immer funktionell untergeordnet: pse_590.004
Octavio gegen Wallenstein, Elisabeth gegen Maria. pse_590.005
Aber es gibt Dramen mit scheinbarem Doppelgipfel. Bei pse_590.006
genauerem Betrachten wird sich doch das Überwiegen einer pse_590.007
Hauptgestalt zeigen: Das hängt teils vom Willen des Dichters pse_590.008
ab, teils von der Bedeutsamkeit der Gestalt oder auch vom pse_590.009
Gehalt. Man wird Tasso über Antonio, Iphigenie über Orest, pse_590.010
Romeo über Julia stellen. Es kann auch zu Verschiebungen pse_590.011
während des Dramas kommen, wenn eine Gestalt erst langsam pse_590.012
im Lauf der Handlung an die entscheidende Stelle vordringt; pse_590.013
so ist es wohl mit Don Carlos der Fall, der erst gegen pse_590.014
Ende eindeutige Hauptgestalt wird. Das ist wieder eine besondere pse_590.015
Art der künstlerischen Durchführung des dramatischen pse_590.016
Vorgangs. Aber es sind auch wirkliche Doppelgipfel pse_590.017
künstlerisch möglich. Denn die Urgespaltenheit kann entweder pse_590.018
in der Art eines Menschen liegen (Hamlet, Alkmene) pse_590.019
oder im Kampf zweier, wobei eine Hauptgestalt doch heraustritt pse_590.020
(Tasso), oder im Zusammenstoß zweier gleichgewerteter pse_590.021
Menschen. So scheint in den früheren Teilen des "Carlos" ein pse_590.022
Doppelgipfel Philipp -- Posa zu bestehen, eigenartig ist die pse_590.023
Häufigkeit solcher Form bei Hebbel: Genoveva -- Golo, pse_590.024
Albrecht -- Ernst, besonders aber Herodes und Marianne: pse_590.025
zwei Menschen suchen Halt am höchsten Wert der Liebe pse_590.026
gegenüber der drohenden irdischen Welt, sie versagen beide pse_590.027
an diesem Wert, aber jeder auf andere Weise, sie müssen sich pse_590.028
dadurch zerstören und sind doch gerade durch diese Liebe pse_590.029
aneinander gebunden.

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Die Nebenfiguren reizen oder hemmen die Hauptgestalt, pse_590.031
sie beleuchten den Vorgang wie etwa die Glosterhandlung im pse_590.032
"Lear", oder sie parodieren und untermalen die Haupthandlung pse_590.033
wie die vielen Dienerhandlungen. Die stärkste Nebenfigur pse_590.034
ist der Gegner. Er kann oft geradezu eine aus dem Helden pse_590.035
hinausgestaltete Eigenart sein, wie teilweise Mephisto Züge pse_590.036
Fausts individualisiert. Das Gegenspiel kann durch eine ganze pse_590.037
Gruppe von Gegnern vertreten sein. In der "Phedre" verteilt pse_590.038
sich das Gegenspiel im Lauf des Vorgangs auf Hippolyt, auf

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liegt vor, wenn zwei Hauptgestalten auftreten. Es handelt pse_590.002
sich nicht um den Gegner des Helden, denn der ist ihm pse_590.003
aus der Struktur des Dramas immer funktionell untergeordnet: pse_590.004
Octavio gegen Wallenstein, Elisabeth gegen Maria. pse_590.005
Aber es gibt Dramen mit scheinbarem Doppelgipfel. Bei pse_590.006
genauerem Betrachten wird sich doch das Überwiegen einer pse_590.007
Hauptgestalt zeigen: Das hängt teils vom Willen des Dichters pse_590.008
ab, teils von der Bedeutsamkeit der Gestalt oder auch vom pse_590.009
Gehalt. Man wird Tasso über Antonio, Iphigenie über Orest, pse_590.010
Romeo über Julia stellen. Es kann auch zu Verschiebungen pse_590.011
während des Dramas kommen, wenn eine Gestalt erst langsam pse_590.012
im Lauf der Handlung an die entscheidende Stelle vordringt; pse_590.013
so ist es wohl mit Don Carlos der Fall, der erst gegen pse_590.014
Ende eindeutige Hauptgestalt wird. Das ist wieder eine besondere pse_590.015
Art der künstlerischen Durchführung des dramatischen pse_590.016
Vorgangs. Aber es sind auch wirkliche Doppelgipfel pse_590.017
künstlerisch möglich. Denn die Urgespaltenheit kann entweder pse_590.018
in der Art eines Menschen liegen (Hamlet, Alkmene) pse_590.019
oder im Kampf zweier, wobei eine Hauptgestalt doch heraustritt pse_590.020
(Tasso), oder im Zusammenstoß zweier gleichgewerteter pse_590.021
Menschen. So scheint in den früheren Teilen des »Carlos« ein pse_590.022
Doppelgipfel Philipp — Posa zu bestehen, eigenartig ist die pse_590.023
Häufigkeit solcher Form bei Hebbel: Genoveva — Golo, pse_590.024
Albrecht — Ernst, besonders aber Herodes und Marianne: pse_590.025
zwei Menschen suchen Halt am höchsten Wert der Liebe pse_590.026
gegenüber der drohenden irdischen Welt, sie versagen beide pse_590.027
an diesem Wert, aber jeder auf andere Weise, sie müssen sich pse_590.028
dadurch zerstören und sind doch gerade durch diese Liebe pse_590.029
aneinander gebunden.

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Die Nebenfiguren reizen oder hemmen die Hauptgestalt, pse_590.031
sie beleuchten den Vorgang wie etwa die Glosterhandlung im pse_590.032
»Lear«, oder sie parodieren und untermalen die Haupthandlung pse_590.033
wie die vielen Dienerhandlungen. Die stärkste Nebenfigur pse_590.034
ist der Gegner. Er kann oft geradezu eine aus dem Helden pse_590.035
hinausgestaltete Eigenart sein, wie teilweise Mephisto Züge pse_590.036
Fausts individualisiert. Das Gegenspiel kann durch eine ganze pse_590.037
Gruppe von Gegnern vertreten sein. In der »Phèdre« verteilt pse_590.038
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[590/0606] pse_590.001 liegt vor, wenn zwei Hauptgestalten auftreten. Es handelt pse_590.002 sich nicht um den Gegner des Helden, denn der ist ihm pse_590.003 aus der Struktur des Dramas immer funktionell untergeordnet: pse_590.004 Octavio gegen Wallenstein, Elisabeth gegen Maria. pse_590.005 Aber es gibt Dramen mit scheinbarem Doppelgipfel. Bei pse_590.006 genauerem Betrachten wird sich doch das Überwiegen einer pse_590.007 Hauptgestalt zeigen: Das hängt teils vom Willen des Dichters pse_590.008 ab, teils von der Bedeutsamkeit der Gestalt oder auch vom pse_590.009 Gehalt. Man wird Tasso über Antonio, Iphigenie über Orest, pse_590.010 Romeo über Julia stellen. Es kann auch zu Verschiebungen pse_590.011 während des Dramas kommen, wenn eine Gestalt erst langsam pse_590.012 im Lauf der Handlung an die entscheidende Stelle vordringt; pse_590.013 so ist es wohl mit Don Carlos der Fall, der erst gegen pse_590.014 Ende eindeutige Hauptgestalt wird. Das ist wieder eine besondere pse_590.015 Art der künstlerischen Durchführung des dramatischen pse_590.016 Vorgangs. Aber es sind auch wirkliche Doppelgipfel pse_590.017 künstlerisch möglich. Denn die Urgespaltenheit kann entweder pse_590.018 in der Art eines Menschen liegen (Hamlet, Alkmene) pse_590.019 oder im Kampf zweier, wobei eine Hauptgestalt doch heraustritt pse_590.020 (Tasso), oder im Zusammenstoß zweier gleichgewerteter pse_590.021 Menschen. So scheint in den früheren Teilen des »Carlos« ein pse_590.022 Doppelgipfel Philipp — Posa zu bestehen, eigenartig ist die pse_590.023 Häufigkeit solcher Form bei Hebbel: Genoveva — Golo, pse_590.024 Albrecht — Ernst, besonders aber Herodes und Marianne: pse_590.025 zwei Menschen suchen Halt am höchsten Wert der Liebe pse_590.026 gegenüber der drohenden irdischen Welt, sie versagen beide pse_590.027 an diesem Wert, aber jeder auf andere Weise, sie müssen sich pse_590.028 dadurch zerstören und sind doch gerade durch diese Liebe pse_590.029 aneinander gebunden. pse_590.030 Die Nebenfiguren reizen oder hemmen die Hauptgestalt, pse_590.031 sie beleuchten den Vorgang wie etwa die Glosterhandlung im pse_590.032 »Lear«, oder sie parodieren und untermalen die Haupthandlung pse_590.033 wie die vielen Dienerhandlungen. Die stärkste Nebenfigur pse_590.034 ist der Gegner. Er kann oft geradezu eine aus dem Helden pse_590.035 hinausgestaltete Eigenart sein, wie teilweise Mephisto Züge pse_590.036 Fausts individualisiert. Das Gegenspiel kann durch eine ganze pse_590.037 Gruppe von Gegnern vertreten sein. In der »Phèdre« verteilt pse_590.038 sich das Gegenspiel im Lauf des Vorgangs auf Hippolyt, auf

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/606>, abgerufen am 22.11.2024.