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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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auftut. Wir nennen es Schicksal. In ihm trifft das, was pse_574.002
dem Menschen geschickt ist, mit dem Inneren des Menschen pse_574.003
zusammen: das Geschickte wird vom Menschen in irgendeiner pse_574.004
Weise aufgenommen. Nur wenn ein tieferer Hintergrund pse_574.005
zu fehlen scheint, nennen wir es Zufall oder Verhängnis. pse_574.006
Die Antike sah im Schicksal die letzte Macht hinter allem, pse_574.007
auch hinter den Göttern, der Christ denkt dabei an die Unfaßbarkeit pse_574.008
der göttlichen Vorsehung, die anerkannt sein muß, pse_574.009
wenn man sie auch nicht begreift. Die deutsche Klassik drängt pse_574.010
die Macht des Schicksals stark aus ihrem Weltbild zurück, da pse_574.011
sie die menschliche Persönlichkeit hochschätzt. So ergeben pse_574.012
sich bestimmte Ausformungen der Schicksalsdramatik, die wir pse_574.013
noch berühren werden.

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Die Entfaltung des dramatischen Konflikts im Vorgang pse_574.015
ist nicht einlinig, sondern geht nach mehreren Richtungen, pse_574.016
der Vorgang ist geschichtet. Es gibt Motive, die in letzte pse_574.017
weltanschauliche Zusammenhänge weisen, solche, die vor pse_574.018
allem eine dichterische Wirklichkeit schaffen, endlich solche, pse_574.019
die Teile des Geschehens sinnvoll verknüpfen. Zu den ersten pse_574.020
gehört etwa Wallensteins Sternenglaube, zu den zweiten pse_574.021
alles, was den Bruch zwischen Wallenstein und dem Kaiser gestaltet, pse_574.022
zu den dritten etwa der Brief, den Wallenstein über pse_574.023
Butler an den Kaiser schrieb. So entsteht eine Art Organismus pse_574.024
von flächenhafter und tiefenhafter Ausdehnung. Es pse_574.025
können auch zwei Vorgänge zu einer Ganzheit verflochten pse_574.026
werden. In Goethes "Faust" spielt sich einmal eine menschliche pse_574.027
Tragödie ab, ein Auf und Ab von Aufschwüngen und Niederbrüchen, pse_574.028
darüber wölbt sich ein mannigfach geschichteter pse_574.029
übermenschlicher Vorgang, eine Art Mysterienspiel, das pse_574.030
Fausts Leben in einen höheren Zusammenhang einordnet. pse_574.031
So bilden beide Vorgänge ein höheres Ganzes.

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Der dramatische Vorgang verläuft zeitlich und weist dabei pse_574.033
bestimmte Merkmale auf. Bekanntlich hat G. Freytag dafür pse_574.034
Normen aufgestellt. Man kann sie allgemein etwa so formulieren: pse_574.035
der Vorgang hat einen deutlichen Ansatzpunkt, pse_574.036
ein erregendes Moment; eine Stelle, wo sich in starker Verdichtung pse_574.037
eine Wende anbahnt; einen deutlichen Schluß mit pse_574.038
letzter Spannung und Katastrophe. Das gilt für viele Dramen,

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auftut. Wir nennen es Schicksal. In ihm trifft das, was pse_574.002
dem Menschen geschickt ist, mit dem Inneren des Menschen pse_574.003
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zu fehlen scheint, nennen wir es Zufall oder Verhängnis. pse_574.006
Die Antike sah im Schicksal die letzte Macht hinter allem, pse_574.007
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der göttlichen Vorsehung, die anerkannt sein muß, pse_574.009
wenn man sie auch nicht begreift. Die deutsche Klassik drängt pse_574.010
die Macht des Schicksals stark aus ihrem Weltbild zurück, da pse_574.011
sie die menschliche Persönlichkeit hochschätzt. So ergeben pse_574.012
sich bestimmte Ausformungen der Schicksalsdramatik, die wir pse_574.013
noch berühren werden.

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Die Entfaltung des dramatischen Konflikts im Vorgang pse_574.015
ist nicht einlinig, sondern geht nach mehreren Richtungen, pse_574.016
der Vorgang ist geschichtet. Es gibt Motive, die in letzte pse_574.017
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Butler an den Kaiser schrieb. So entsteht eine Art Organismus pse_574.024
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Tragödie ab, ein Auf und Ab von Aufschwüngen und Niederbrüchen, pse_574.028
darüber wölbt sich ein mannigfach geschichteter pse_574.029
übermenschlicher Vorgang, eine Art Mysterienspiel, das pse_574.030
Fausts Leben in einen höheren Zusammenhang einordnet. pse_574.031
So bilden beide Vorgänge ein höheres Ganzes.

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Der dramatische Vorgang verläuft zeitlich und weist dabei pse_574.033
bestimmte Merkmale auf. Bekanntlich hat G. Freytag dafür pse_574.034
Normen aufgestellt. Man kann sie allgemein etwa so formulieren: pse_574.035
der Vorgang hat einen deutlichen Ansatzpunkt, pse_574.036
ein erregendes Moment; eine Stelle, wo sich in starker Verdichtung pse_574.037
eine Wende anbahnt; einen deutlichen Schluß mit pse_574.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/590>, abgerufen am 18.05.2024.