Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_566.001
sein können. Es sind der Mimus, der sprachliche Weg vom pse_566.002
Dialog zum gesprochenen Spiel, der Kultus mit dem Chor.

pse_566.003
Die ursprünglichste Form des Mimus ist das szenische Spiel pse_566.004
eines Possenreißers. Aus ihm entwickelt sich das Spielen auf pse_566.005
der Bühne. Der Mimus erwächst aus dem Spieltrieb des Menschen; pse_566.006
in diesem Trieb liegt auch der Drang zur Nachahmung pse_566.007
und zum Rollentausch, der für den Kultus sehr wichtig war. pse_566.008
Der Mimus gestaltet Auftritte, wie sie ja auch im täglichen pse_566.009
Leben vorkommen ("wir haben einen bösen Auftritt mit ihm pse_566.010
gehabt"), und er liebt das Maskentragen. Masken bedeuten pse_566.011
nicht nur Verwandlung, sondern auch Überhöhung. Der pse_566.012
Mimus hat sich auf anderen Wegen selbständig entwickelt: pse_566.013
zur Pantomime und zum Ballett. Aber auch für das Drama pse_566.014
hat er große Bedeutung. Noch der "Tasso" hat mimische pse_566.015
Auftritte: das Degenziehen und die Umarmung. Wird aber pse_566.016
im Drama alles auf den Mimus und das Spiel hingelenkt, entsteht pse_566.017
die Gefahr, daß das Dichterische zurückgedrängt wird.

pse_566.018
Denn die sprachliche Seite ist unbedingt der andere Pol für pse_566.019
die Entstehung des Dramas. Ohne die künstlerischen Möglichkeiten pse_566.020
der Sprache gibt es kein Drama, denn nur so wird pse_566.021
es ins rein Dichterische gehoben. Von der Sprache her entwickelt pse_566.022
sich das Gespräch, das eine Vorform des dramatischen pse_566.023
Dialogs ist. Eine erzählbare Handlung muß den Kern des pse_566.024
Dramas bilden. Aus der Verbindung von Mimus und Gespräch pse_566.025
entwickelt sich das Spiel, dem noch manches Wesentliche pse_566.026
zum echten Drama fehlt. Es arbeitet bloß auf Theatereffekte, pse_566.027
Belehrung und Unterhaltung hin: Hans Sachs, manches pse_566.028
bei Goldoni, Moliere, Shakespeare und Raimund. pse_566.029
Neuere Theaterstücke bilden eine Art Kümmerform davon: pse_566.030
Stücke von Iffland, Kotzebue, Sudermann. Gerade in der pse_566.031
Verbindung von Mimus und Gespräch zeigt sich schon die pse_566.032
Bedeutung des Schauspielers. In ihm vollzieht sich die Vereinigung pse_566.033
von Spiel und Sprache, er macht eine Bühne notwendig pse_566.034
und trennt damit durch sein Dasein alles Gesprochene pse_566.035
vom Wesen der Epik.

pse_566.036
Eine weitere Wurzel des Dramas sind Kultus und Chor. Ursprünglich pse_566.037
begleitet ein Kultlied eine Kulthandlung, es soll pse_566.038
sie in ihrem Sinn erklären. Aber die kultischen Chöre führen

pse_566.001
sein können. Es sind der Mimus, der sprachliche Weg vom pse_566.002
Dialog zum gesprochenen Spiel, der Kultus mit dem Chor.

pse_566.003
Die ursprünglichste Form des Mimus ist das szenische Spiel pse_566.004
eines Possenreißers. Aus ihm entwickelt sich das Spielen auf pse_566.005
der Bühne. Der Mimus erwächst aus dem Spieltrieb des Menschen; pse_566.006
in diesem Trieb liegt auch der Drang zur Nachahmung pse_566.007
und zum Rollentausch, der für den Kultus sehr wichtig war. pse_566.008
Der Mimus gestaltet Auftritte, wie sie ja auch im täglichen pse_566.009
Leben vorkommen (»wir haben einen bösen Auftritt mit ihm pse_566.010
gehabt«), und er liebt das Maskentragen. Masken bedeuten pse_566.011
nicht nur Verwandlung, sondern auch Überhöhung. Der pse_566.012
Mimus hat sich auf anderen Wegen selbständig entwickelt: pse_566.013
zur Pantomime und zum Ballett. Aber auch für das Drama pse_566.014
hat er große Bedeutung. Noch der »Tasso« hat mimische pse_566.015
Auftritte: das Degenziehen und die Umarmung. Wird aber pse_566.016
im Drama alles auf den Mimus und das Spiel hingelenkt, entsteht pse_566.017
die Gefahr, daß das Dichterische zurückgedrängt wird.

pse_566.018
Denn die sprachliche Seite ist unbedingt der andere Pol für pse_566.019
die Entstehung des Dramas. Ohne die künstlerischen Möglichkeiten pse_566.020
der Sprache gibt es kein Drama, denn nur so wird pse_566.021
es ins rein Dichterische gehoben. Von der Sprache her entwickelt pse_566.022
sich das Gespräch, das eine Vorform des dramatischen pse_566.023
Dialogs ist. Eine erzählbare Handlung muß den Kern des pse_566.024
Dramas bilden. Aus der Verbindung von Mimus und Gespräch pse_566.025
entwickelt sich das Spiel, dem noch manches Wesentliche pse_566.026
zum echten Drama fehlt. Es arbeitet bloß auf Theatereffekte, pse_566.027
Belehrung und Unterhaltung hin: Hans Sachs, manches pse_566.028
bei Goldoni, Molière, Shakespeare und Raimund. pse_566.029
Neuere Theaterstücke bilden eine Art Kümmerform davon: pse_566.030
Stücke von Iffland, Kotzebue, Sudermann. Gerade in der pse_566.031
Verbindung von Mimus und Gespräch zeigt sich schon die pse_566.032
Bedeutung des Schauspielers. In ihm vollzieht sich die Vereinigung pse_566.033
von Spiel und Sprache, er macht eine Bühne notwendig pse_566.034
und trennt damit durch sein Dasein alles Gesprochene pse_566.035
vom Wesen der Epik.

pse_566.036
Eine weitere Wurzel des Dramas sind Kultus und Chor. Ursprünglich pse_566.037
begleitet ein Kultlied eine Kulthandlung, es soll pse_566.038
sie in ihrem Sinn erklären. Aber die kultischen Chöre führen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0582" n="566"/><lb n="pse_566.001"/>
sein können. Es sind der Mimus, der sprachliche Weg vom <lb n="pse_566.002"/>
Dialog zum gesprochenen Spiel, der Kultus mit dem Chor.</p>
            <p><lb n="pse_566.003"/>
Die ursprünglichste Form des <hi rendition="#i">Mimus</hi> ist das szenische Spiel <lb n="pse_566.004"/>
eines Possenreißers. Aus ihm entwickelt sich das Spielen auf <lb n="pse_566.005"/>
der Bühne. Der Mimus erwächst aus dem Spieltrieb des Menschen; <lb n="pse_566.006"/>
in diesem Trieb liegt auch der Drang zur Nachahmung <lb n="pse_566.007"/>
und zum Rollentausch, der für den Kultus sehr wichtig war. <lb n="pse_566.008"/>
Der Mimus gestaltet Auftritte, wie sie ja auch im täglichen <lb n="pse_566.009"/>
Leben vorkommen (»wir haben einen bösen Auftritt mit ihm <lb n="pse_566.010"/>
gehabt«), und er liebt das Maskentragen. Masken bedeuten <lb n="pse_566.011"/>
nicht nur Verwandlung, sondern auch Überhöhung. Der <lb n="pse_566.012"/>
Mimus hat sich auf anderen Wegen selbständig entwickelt: <lb n="pse_566.013"/>
zur Pantomime und zum Ballett. Aber auch für das Drama <lb n="pse_566.014"/>
hat er große Bedeutung. Noch der »Tasso« hat mimische <lb n="pse_566.015"/>
Auftritte: das Degenziehen und die Umarmung. Wird aber <lb n="pse_566.016"/>
im Drama alles auf den Mimus und das Spiel hingelenkt, entsteht <lb n="pse_566.017"/>
die Gefahr, daß das Dichterische zurückgedrängt wird.</p>
            <p><lb n="pse_566.018"/>
Denn die <hi rendition="#i">sprachliche Seite</hi> ist unbedingt der andere Pol für <lb n="pse_566.019"/>
die Entstehung des Dramas. Ohne die künstlerischen Möglichkeiten <lb n="pse_566.020"/>
der Sprache gibt es kein Drama, denn nur so wird <lb n="pse_566.021"/>
es ins rein Dichterische gehoben. Von der Sprache her entwickelt <lb n="pse_566.022"/>
sich das Gespräch, das eine Vorform des dramatischen <lb n="pse_566.023"/>
Dialogs ist. Eine erzählbare Handlung muß den Kern des <lb n="pse_566.024"/>
Dramas bilden. Aus der Verbindung von Mimus und Gespräch <lb n="pse_566.025"/>
entwickelt sich das Spiel, dem noch manches Wesentliche <lb n="pse_566.026"/>
zum echten Drama fehlt. Es arbeitet bloß auf Theatereffekte, <lb n="pse_566.027"/>
Belehrung und Unterhaltung hin: Hans Sachs, manches <lb n="pse_566.028"/>
bei Goldoni, Molière, Shakespeare und Raimund. <lb n="pse_566.029"/>
Neuere Theaterstücke bilden eine Art Kümmerform davon: <lb n="pse_566.030"/>
Stücke von Iffland, Kotzebue, Sudermann. Gerade in der <lb n="pse_566.031"/>
Verbindung von Mimus und Gespräch zeigt sich schon die <lb n="pse_566.032"/>
Bedeutung des Schauspielers. In ihm vollzieht sich die Vereinigung <lb n="pse_566.033"/>
von Spiel und Sprache, er macht eine Bühne notwendig <lb n="pse_566.034"/>
und trennt damit durch sein Dasein alles Gesprochene <lb n="pse_566.035"/>
vom Wesen der Epik.</p>
            <p><lb n="pse_566.036"/>
Eine weitere Wurzel des Dramas sind <hi rendition="#i">Kultus und Chor.</hi> Ursprünglich <lb n="pse_566.037"/>
begleitet ein Kultlied eine Kulthandlung, es soll <lb n="pse_566.038"/>
sie in ihrem Sinn erklären. Aber die kultischen Chöre führen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[566/0582] pse_566.001 sein können. Es sind der Mimus, der sprachliche Weg vom pse_566.002 Dialog zum gesprochenen Spiel, der Kultus mit dem Chor. pse_566.003 Die ursprünglichste Form des Mimus ist das szenische Spiel pse_566.004 eines Possenreißers. Aus ihm entwickelt sich das Spielen auf pse_566.005 der Bühne. Der Mimus erwächst aus dem Spieltrieb des Menschen; pse_566.006 in diesem Trieb liegt auch der Drang zur Nachahmung pse_566.007 und zum Rollentausch, der für den Kultus sehr wichtig war. pse_566.008 Der Mimus gestaltet Auftritte, wie sie ja auch im täglichen pse_566.009 Leben vorkommen (»wir haben einen bösen Auftritt mit ihm pse_566.010 gehabt«), und er liebt das Maskentragen. Masken bedeuten pse_566.011 nicht nur Verwandlung, sondern auch Überhöhung. Der pse_566.012 Mimus hat sich auf anderen Wegen selbständig entwickelt: pse_566.013 zur Pantomime und zum Ballett. Aber auch für das Drama pse_566.014 hat er große Bedeutung. Noch der »Tasso« hat mimische pse_566.015 Auftritte: das Degenziehen und die Umarmung. Wird aber pse_566.016 im Drama alles auf den Mimus und das Spiel hingelenkt, entsteht pse_566.017 die Gefahr, daß das Dichterische zurückgedrängt wird. pse_566.018 Denn die sprachliche Seite ist unbedingt der andere Pol für pse_566.019 die Entstehung des Dramas. Ohne die künstlerischen Möglichkeiten pse_566.020 der Sprache gibt es kein Drama, denn nur so wird pse_566.021 es ins rein Dichterische gehoben. Von der Sprache her entwickelt pse_566.022 sich das Gespräch, das eine Vorform des dramatischen pse_566.023 Dialogs ist. Eine erzählbare Handlung muß den Kern des pse_566.024 Dramas bilden. Aus der Verbindung von Mimus und Gespräch pse_566.025 entwickelt sich das Spiel, dem noch manches Wesentliche pse_566.026 zum echten Drama fehlt. Es arbeitet bloß auf Theatereffekte, pse_566.027 Belehrung und Unterhaltung hin: Hans Sachs, manches pse_566.028 bei Goldoni, Molière, Shakespeare und Raimund. pse_566.029 Neuere Theaterstücke bilden eine Art Kümmerform davon: pse_566.030 Stücke von Iffland, Kotzebue, Sudermann. Gerade in der pse_566.031 Verbindung von Mimus und Gespräch zeigt sich schon die pse_566.032 Bedeutung des Schauspielers. In ihm vollzieht sich die Vereinigung pse_566.033 von Spiel und Sprache, er macht eine Bühne notwendig pse_566.034 und trennt damit durch sein Dasein alles Gesprochene pse_566.035 vom Wesen der Epik. pse_566.036 Eine weitere Wurzel des Dramas sind Kultus und Chor. Ursprünglich pse_566.037 begleitet ein Kultlied eine Kulthandlung, es soll pse_566.038 sie in ihrem Sinn erklären. Aber die kultischen Chöre führen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/582
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/582>, abgerufen am 22.11.2024.