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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art pse_567.002
Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die pse_567.003
Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, pse_567.004
der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem pse_567.005
Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt pse_567.006
werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird pse_567.007
selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung, pse_567.008
der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich pse_567.009
hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit. pse_567.010
Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In pse_567.011
solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind pse_567.012
nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar pse_567.013
erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung: pse_567.014
Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom pse_567.015
Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen pse_567.016
Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das pse_567.017
Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte pse_567.018
Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen pse_567.019
eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste pse_567.020
Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung pse_567.021
unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung pse_567.022
für den Ursprung des Dramas: das Darstellen pse_567.023
allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste pse_567.024
Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten pse_567.025
des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau pse_567.026
hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde pse_567.027
herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.

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Bekanntlich ist das Wort "dramatisch" nicht bloß auf bestimmte pse_567.029
dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus pse_567.030
der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt pse_567.031
übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir pse_567.032
sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den pse_567.033
Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und pse_567.034
dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist pse_567.035
zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, pse_567.036
das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann pse_567.037
die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht. pse_567.038
Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche

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auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art pse_567.002
Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die pse_567.003
Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, pse_567.004
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Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt pse_567.006
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der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich pse_567.009
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Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom pse_567.015
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Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung pse_567.021
unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung pse_567.022
für den Ursprung des Dramas: das Darstellen pse_567.023
allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste pse_567.024
Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten pse_567.025
des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau pse_567.026
hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde pse_567.027
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Bekanntlich ist das Wort »dramatisch« nicht bloß auf bestimmte pse_567.029
dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus pse_567.030
der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt pse_567.031
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sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den pse_567.033
Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und pse_567.034
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zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, pse_567.036
das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann pse_567.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/583>, abgerufen am 18.05.2024.