pse_510.001 Ballade ist weder Verrat an der Lyrik noch an der Fiktion, sie pse_510.002 ist keine dekadente Mischform. Denn Mischformen müssen pse_510.003 auf keinen Fall Entartung sein. Nur wenn man das Geschehen pse_510.004 als Erlebnisfeld des Dichters sieht, und zwar als Zusammenhang pse_510.005 mit der außerdichterischen Wirklichkeit, und nicht als pse_510.006 nur im dichterischen Raum sich vollziehenden Vorgang, tritt pse_510.007 eine scharfe Trennung ein. Wir haben aber bereits erkannt, pse_510.008 daß auch Lyrik eine Welt im Sprachraum aufbaut und alle pse_510.009 außersprachliche Wirklichkeit unwesentlich wird. Gerade pse_510.010 an der Ballade spüren wir die Freiheit des dichterischen pse_510.011 Schöpfers, ein Geschehen entweder ergriffen zu erzählen oder pse_510.012 zum Anlaß dichterischen Ausdrucks persönlicher Ergriffenheit pse_510.013 zu machen. Danach würden wir Lyrik von Epik trennen. pse_510.014 Die Ballade bleibt am besten als wenn auch noch so miterlebendes pse_510.015 Erzählen doch im Raum des Epischen, zumal wenn wir sie pse_510.016 als ein typisches dichterisches Gebilde herausstellen.
pse_510.017 Vielfach nennen Dichter ihre Balladen auch Romanzen. Vom pse_510.018 Typischen der Erzählhaltung her gesehen kann man heute pse_510.019 keinen Unterschied mehr feststellen. Auch der, daß die pse_510.020 Romanze nicht so düster sei, ist nicht stichhaltig, weil die pse_510.021 Bezeichnungen, die Dichter ihren strengen versepischen pse_510.022 Gedichten geben, dem oft widersprechen. Bürger, Goethe, pse_510.023 Schiller, Uhland und Fontane machen keinen Unterschied. pse_510.024 Geschichtlich allerdings führt die Romanze unmittelbar in den pse_510.025 spanischen Bereich zurück. Dort heißen so die kurzen, sprunghaften, pse_510.026 volksliedmäßigen Erzähllieder vom 14. bis 17. Jahrhundert. pse_510.027 Es entfalten sich daraus zwei Sproßformen: die Veredlung pse_510.028 des Bänkelsangs durch Gleim, während B. Brecht bewußt pse_510.029 wieder zu dieser Form des Bänkelsangs zurückkehrt. pse_510.030 Das ist eine Frage der inneren Haltung des Dichters. Die andere pse_510.031 Sproßform ist der Rückgriff auf die echte spanische Romanze pse_510.032 durch Herder. Daraus entfaltet sich dann die Art des Romanzenzyklus, pse_510.033 von dem wir später sprechen.
pse_510.034 Manche von den englischen Dramatic Monologues und pse_510.035 entsprechenden Gedichten C. F. Meyers, von denen wir schon pse_510.036 bei der Lyrik (S. 422-424) gesprochen haben, könnten auch zu pse_510.037 den Balladen gerechnet werden. Es ist ja immer in solchen Gedichten pse_510.038 ein Ereignis in der Seele und Darstellung der sprechenden
pse_510.001 Ballade ist weder Verrat an der Lyrik noch an der Fiktion, sie pse_510.002 ist keine dekadente Mischform. Denn Mischformen müssen pse_510.003 auf keinen Fall Entartung sein. Nur wenn man das Geschehen pse_510.004 als Erlebnisfeld des Dichters sieht, und zwar als Zusammenhang pse_510.005 mit der außerdichterischen Wirklichkeit, und nicht als pse_510.006 nur im dichterischen Raum sich vollziehenden Vorgang, tritt pse_510.007 eine scharfe Trennung ein. Wir haben aber bereits erkannt, pse_510.008 daß auch Lyrik eine Welt im Sprachraum aufbaut und alle pse_510.009 außersprachliche Wirklichkeit unwesentlich wird. Gerade pse_510.010 an der Ballade spüren wir die Freiheit des dichterischen pse_510.011 Schöpfers, ein Geschehen entweder ergriffen zu erzählen oder pse_510.012 zum Anlaß dichterischen Ausdrucks persönlicher Ergriffenheit pse_510.013 zu machen. Danach würden wir Lyrik von Epik trennen. pse_510.014 Die Ballade bleibt am besten als wenn auch noch so miterlebendes pse_510.015 Erzählen doch im Raum des Epischen, zumal wenn wir sie pse_510.016 als ein typisches dichterisches Gebilde herausstellen.
pse_510.017 Vielfach nennen Dichter ihre Balladen auch Romanzen. Vom pse_510.018 Typischen der Erzählhaltung her gesehen kann man heute pse_510.019 keinen Unterschied mehr feststellen. Auch der, daß die pse_510.020 Romanze nicht so düster sei, ist nicht stichhaltig, weil die pse_510.021 Bezeichnungen, die Dichter ihren strengen versepischen pse_510.022 Gedichten geben, dem oft widersprechen. Bürger, Goethe, pse_510.023 Schiller, Uhland und Fontane machen keinen Unterschied. pse_510.024 Geschichtlich allerdings führt die Romanze unmittelbar in den pse_510.025 spanischen Bereich zurück. Dort heißen so die kurzen, sprunghaften, pse_510.026 volksliedmäßigen Erzähllieder vom 14. bis 17. Jahrhundert. pse_510.027 Es entfalten sich daraus zwei Sproßformen: die Veredlung pse_510.028 des Bänkelsangs durch Gleim, während B. Brecht bewußt pse_510.029 wieder zu dieser Form des Bänkelsangs zurückkehrt. pse_510.030 Das ist eine Frage der inneren Haltung des Dichters. Die andere pse_510.031 Sproßform ist der Rückgriff auf die echte spanische Romanze pse_510.032 durch Herder. Daraus entfaltet sich dann die Art des Romanzenzyklus, pse_510.033 von dem wir später sprechen.
pse_510.034 Manche von den englischen Dramatic Monologues und pse_510.035 entsprechenden Gedichten C. F. Meyers, von denen wir schon pse_510.036 bei der Lyrik (S. 422–424) gesprochen haben, könnten auch zu pse_510.037 den Balladen gerechnet werden. Es ist ja immer in solchen Gedichten pse_510.038 ein Ereignis in der Seele und Darstellung der sprechenden
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Ballade ist weder Verrat an der Lyrik noch an der Fiktion, sie pse_510.002
ist keine dekadente Mischform. Denn Mischformen müssen pse_510.003
auf keinen Fall Entartung sein. Nur wenn man das Geschehen pse_510.004
als Erlebnisfeld des Dichters sieht, und zwar als Zusammenhang pse_510.005
mit der außerdichterischen Wirklichkeit, und nicht als pse_510.006
nur im dichterischen Raum sich vollziehenden Vorgang, tritt pse_510.007
eine scharfe Trennung ein. Wir haben aber bereits erkannt, pse_510.008
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außersprachliche Wirklichkeit unwesentlich wird. Gerade pse_510.010
an der Ballade spüren wir die Freiheit des dichterischen pse_510.011
Schöpfers, ein Geschehen entweder ergriffen zu erzählen oder pse_510.012
zum Anlaß dichterischen Ausdrucks persönlicher Ergriffenheit pse_510.013
zu machen. Danach würden wir Lyrik von Epik trennen. pse_510.014
Die Ballade bleibt am besten als wenn auch noch so miterlebendes pse_510.015
Erzählen doch im Raum des Epischen, zumal wenn wir sie pse_510.016
als ein typisches dichterisches Gebilde herausstellen.
pse_510.017
Vielfach nennen Dichter ihre Balladen auch Romanzen. Vom pse_510.018
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keinen Unterschied mehr feststellen. Auch der, daß die pse_510.020
Romanze nicht so düster sei, ist nicht stichhaltig, weil die pse_510.021
Bezeichnungen, die Dichter ihren strengen versepischen pse_510.022
Gedichten geben, dem oft widersprechen. Bürger, Goethe, pse_510.023
Schiller, Uhland und Fontane machen keinen Unterschied. pse_510.024
Geschichtlich allerdings führt die Romanze unmittelbar in den pse_510.025
spanischen Bereich zurück. Dort heißen so die kurzen, sprunghaften, pse_510.026
volksliedmäßigen Erzähllieder vom 14. bis 17. Jahrhundert. pse_510.027
Es entfalten sich daraus zwei Sproßformen: die Veredlung pse_510.028
des Bänkelsangs durch Gleim, während B. Brecht bewußt pse_510.029
wieder zu dieser Form des Bänkelsangs zurückkehrt. pse_510.030
Das ist eine Frage der inneren Haltung des Dichters. Die andere pse_510.031
Sproßform ist der Rückgriff auf die echte spanische Romanze pse_510.032
durch Herder. Daraus entfaltet sich dann die Art des Romanzenzyklus, pse_510.033
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Manche von den englischen Dramatic Monologues und pse_510.035
entsprechenden Gedichten C. F. Meyers, von denen wir schon pse_510.036
bei der Lyrik (S. 422–424) gesprochen haben, könnten auch zu pse_510.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/526>, abgerufen am 24.11.2024.
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