Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_509.001
Schöpfung; Bürger ist der erste deutsche Dichter, pse_509.002
dann folgen rasch Goethe, Schiller und die Romantiker. Sie ist pse_509.003
bis heute lebendig, wie die Namen Lulu von Strauß und pse_509.004
Torney, Börries von Münchhausen, Ginzkey und Agnes pse_509.005
Miegel beweisen. Die Ballade ist also noch nicht museal. Sie pse_509.006
beweist geradezu die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeit pse_509.007
der versepischen Dichtung.

pse_509.008
Auch sie ist trotz der Weite der Möglichkeiten -- man pse_509.009
vergleiche Schillers Balladen mit Goethes frühen Balladen pse_509.010
"Der Erlkönig" und "Der Fischer" -- durch die Merkmale des pse_509.011
knappen Erzählens gekennzeichnet: es ist eine ausgesprochen pse_509.012
strenge, bewußte Kunst; die Verse schließen sich zu Strophen pse_509.013
zusammen, es werden Höhen zu Szenen mit viel Gespräch pse_509.014
verdichtet, alle Füllung wird aufs knappste zusammengedrängt. pse_509.015
Im "Erlkönig" genügt nach einer kurzen, aber wirkungsvollen pse_509.016
Einführung das bloße Reden der Personen in pse_509.017
Schlag und Gegenschlag und mit banger Steigerung. Am pse_509.018
Schluß führt der Dichter in wenigen Strichen zu Ende. Aus pse_509.019
dieser Form wohl ergibt es sich, daß der Gehalt erregend ist, pse_509.020
besser wohl, daß das Geschehen eben zu einem erregenden pse_509.021
geformt wird. Diese Erregung liegt besonders dem Düsteren, pse_509.022
Tragischen oder dem Grotesken und dann auch dem Komischen. pse_509.023
Humor, Heiterkeit, Idyllisches sind solcher Gestaltung pse_509.024
fern.

pse_509.025
Mit der fest umrissenen Form hängt auch der Bezug der pse_509.026
Ballade zu Dramatik und Lyrik zusammen. Man findet sie pse_509.027
sowohl unter die eine als auch unter die andere Gattung eingereiht. pse_509.028
Der typische Balladenaufbau läßt Urgespaltenheit und pse_509.029
Spannung auf ein Ende hin heraustreten. Damit gewinnt die pse_509.030
Ballade dramatisches Leben; in der Gesprächsführung werden pse_509.031
die Einzelpersonen greifbar, sie stellen sich beinahe wie im pse_509.032
Drama dar. Vielfach spürt man der Ballade die ausgesprochene pse_509.033
Ergriffenheit des Dichters, besser des epischen Erzählers pse_509.034
an. So deutlich im "Erlkönig" und im "Fischer", und man pse_509.035
könnte vielleicht manchmal zweifeln, ob es dem Dichter pse_509.036
darauf ankam, die innere Ergriffenheit an einem Geschehen pse_509.037
herauszustellen oder das Geschehen ergriffen und erregt zu pse_509.038
erzählen. Im ersten Fall liegt der Weg zur Lyrik frei. Aber die

pse_509.001
Schöpfung; Bürger ist der erste deutsche Dichter, pse_509.002
dann folgen rasch Goethe, Schiller und die Romantiker. Sie ist pse_509.003
bis heute lebendig, wie die Namen Lulu von Strauß und pse_509.004
Torney, Börries von Münchhausen, Ginzkey und Agnes pse_509.005
Miegel beweisen. Die Ballade ist also noch nicht museal. Sie pse_509.006
beweist geradezu die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeit pse_509.007
der versepischen Dichtung.

pse_509.008
Auch sie ist trotz der Weite der Möglichkeiten — man pse_509.009
vergleiche Schillers Balladen mit Goethes frühen Balladen pse_509.010
»Der Erlkönig« und »Der Fischer« — durch die Merkmale des pse_509.011
knappen Erzählens gekennzeichnet: es ist eine ausgesprochen pse_509.012
strenge, bewußte Kunst; die Verse schließen sich zu Strophen pse_509.013
zusammen, es werden Höhen zu Szenen mit viel Gespräch pse_509.014
verdichtet, alle Füllung wird aufs knappste zusammengedrängt. pse_509.015
Im »Erlkönig« genügt nach einer kurzen, aber wirkungsvollen pse_509.016
Einführung das bloße Reden der Personen in pse_509.017
Schlag und Gegenschlag und mit banger Steigerung. Am pse_509.018
Schluß führt der Dichter in wenigen Strichen zu Ende. Aus pse_509.019
dieser Form wohl ergibt es sich, daß der Gehalt erregend ist, pse_509.020
besser wohl, daß das Geschehen eben zu einem erregenden pse_509.021
geformt wird. Diese Erregung liegt besonders dem Düsteren, pse_509.022
Tragischen oder dem Grotesken und dann auch dem Komischen. pse_509.023
Humor, Heiterkeit, Idyllisches sind solcher Gestaltung pse_509.024
fern.

pse_509.025
Mit der fest umrissenen Form hängt auch der Bezug der pse_509.026
Ballade zu Dramatik und Lyrik zusammen. Man findet sie pse_509.027
sowohl unter die eine als auch unter die andere Gattung eingereiht. pse_509.028
Der typische Balladenaufbau läßt Urgespaltenheit und pse_509.029
Spannung auf ein Ende hin heraustreten. Damit gewinnt die pse_509.030
Ballade dramatisches Leben; in der Gesprächsführung werden pse_509.031
die Einzelpersonen greifbar, sie stellen sich beinahe wie im pse_509.032
Drama dar. Vielfach spürt man der Ballade die ausgesprochene pse_509.033
Ergriffenheit des Dichters, besser des epischen Erzählers pse_509.034
an. So deutlich im »Erlkönig« und im »Fischer«, und man pse_509.035
könnte vielleicht manchmal zweifeln, ob es dem Dichter pse_509.036
darauf ankam, die innere Ergriffenheit an einem Geschehen pse_509.037
herauszustellen oder das Geschehen ergriffen und erregt zu pse_509.038
erzählen. Im ersten Fall liegt der Weg zur Lyrik frei. Aber die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0525" n="509"/><lb n="pse_509.001"/>
Schöpfung; Bürger ist der erste deutsche Dichter, <lb n="pse_509.002"/>
dann folgen rasch Goethe, Schiller und die Romantiker. Sie ist <lb n="pse_509.003"/>
bis heute lebendig, wie die Namen Lulu von Strauß und <lb n="pse_509.004"/>
Torney, Börries von Münchhausen, Ginzkey und Agnes <lb n="pse_509.005"/>
Miegel beweisen. Die Ballade ist also noch nicht museal. Sie <lb n="pse_509.006"/>
beweist geradezu die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeit <lb n="pse_509.007"/>
der versepischen Dichtung.</p>
              <p><lb n="pse_509.008"/>
Auch sie ist trotz der Weite der Möglichkeiten &#x2014; man <lb n="pse_509.009"/>
vergleiche Schillers Balladen mit Goethes frühen Balladen <lb n="pse_509.010"/>
»Der Erlkönig« und »Der Fischer« &#x2014; durch die Merkmale des <lb n="pse_509.011"/>
knappen Erzählens gekennzeichnet: es ist eine ausgesprochen <lb n="pse_509.012"/>
strenge, bewußte Kunst; die Verse schließen sich zu Strophen <lb n="pse_509.013"/>
zusammen, es werden Höhen zu Szenen mit viel Gespräch <lb n="pse_509.014"/>
verdichtet, alle Füllung wird aufs knappste zusammengedrängt. <lb n="pse_509.015"/>
Im »Erlkönig« genügt nach einer kurzen, aber wirkungsvollen <lb n="pse_509.016"/>
Einführung das bloße Reden der Personen in <lb n="pse_509.017"/>
Schlag und Gegenschlag und mit banger Steigerung. Am <lb n="pse_509.018"/>
Schluß führt der Dichter in wenigen Strichen zu Ende. Aus <lb n="pse_509.019"/>
dieser Form wohl ergibt es sich, daß der Gehalt erregend ist, <lb n="pse_509.020"/>
besser wohl, daß das Geschehen eben zu einem erregenden <lb n="pse_509.021"/>
geformt wird. Diese Erregung liegt besonders dem Düsteren, <lb n="pse_509.022"/>
Tragischen oder dem Grotesken und dann auch dem Komischen. <lb n="pse_509.023"/>
Humor, Heiterkeit, Idyllisches sind solcher Gestaltung <lb n="pse_509.024"/>
fern.</p>
              <p><lb n="pse_509.025"/>
Mit der fest umrissenen Form hängt auch der Bezug der <lb n="pse_509.026"/>
Ballade zu Dramatik und Lyrik zusammen. Man findet sie <lb n="pse_509.027"/>
sowohl unter die eine als auch unter die andere Gattung eingereiht. <lb n="pse_509.028"/>
Der typische Balladenaufbau läßt Urgespaltenheit und <lb n="pse_509.029"/>
Spannung auf ein Ende hin heraustreten. Damit gewinnt die <lb n="pse_509.030"/>
Ballade dramatisches Leben; in der Gesprächsführung werden <lb n="pse_509.031"/>
die Einzelpersonen greifbar, sie stellen sich beinahe wie im <lb n="pse_509.032"/>
Drama dar. Vielfach spürt man der Ballade die ausgesprochene <lb n="pse_509.033"/>
Ergriffenheit des Dichters, besser des epischen Erzählers <lb n="pse_509.034"/>
an. So deutlich im »Erlkönig« und im »Fischer«, und man <lb n="pse_509.035"/>
könnte vielleicht manchmal zweifeln, ob es dem Dichter <lb n="pse_509.036"/>
darauf ankam, die innere Ergriffenheit an einem Geschehen <lb n="pse_509.037"/>
herauszustellen oder das Geschehen ergriffen und erregt zu <lb n="pse_509.038"/>
erzählen. Im ersten Fall liegt der Weg zur Lyrik frei. Aber die
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[509/0525] pse_509.001 Schöpfung; Bürger ist der erste deutsche Dichter, pse_509.002 dann folgen rasch Goethe, Schiller und die Romantiker. Sie ist pse_509.003 bis heute lebendig, wie die Namen Lulu von Strauß und pse_509.004 Torney, Börries von Münchhausen, Ginzkey und Agnes pse_509.005 Miegel beweisen. Die Ballade ist also noch nicht museal. Sie pse_509.006 beweist geradezu die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeit pse_509.007 der versepischen Dichtung. pse_509.008 Auch sie ist trotz der Weite der Möglichkeiten — man pse_509.009 vergleiche Schillers Balladen mit Goethes frühen Balladen pse_509.010 »Der Erlkönig« und »Der Fischer« — durch die Merkmale des pse_509.011 knappen Erzählens gekennzeichnet: es ist eine ausgesprochen pse_509.012 strenge, bewußte Kunst; die Verse schließen sich zu Strophen pse_509.013 zusammen, es werden Höhen zu Szenen mit viel Gespräch pse_509.014 verdichtet, alle Füllung wird aufs knappste zusammengedrängt. pse_509.015 Im »Erlkönig« genügt nach einer kurzen, aber wirkungsvollen pse_509.016 Einführung das bloße Reden der Personen in pse_509.017 Schlag und Gegenschlag und mit banger Steigerung. Am pse_509.018 Schluß führt der Dichter in wenigen Strichen zu Ende. Aus pse_509.019 dieser Form wohl ergibt es sich, daß der Gehalt erregend ist, pse_509.020 besser wohl, daß das Geschehen eben zu einem erregenden pse_509.021 geformt wird. Diese Erregung liegt besonders dem Düsteren, pse_509.022 Tragischen oder dem Grotesken und dann auch dem Komischen. pse_509.023 Humor, Heiterkeit, Idyllisches sind solcher Gestaltung pse_509.024 fern. pse_509.025 Mit der fest umrissenen Form hängt auch der Bezug der pse_509.026 Ballade zu Dramatik und Lyrik zusammen. Man findet sie pse_509.027 sowohl unter die eine als auch unter die andere Gattung eingereiht. pse_509.028 Der typische Balladenaufbau läßt Urgespaltenheit und pse_509.029 Spannung auf ein Ende hin heraustreten. Damit gewinnt die pse_509.030 Ballade dramatisches Leben; in der Gesprächsführung werden pse_509.031 die Einzelpersonen greifbar, sie stellen sich beinahe wie im pse_509.032 Drama dar. Vielfach spürt man der Ballade die ausgesprochene pse_509.033 Ergriffenheit des Dichters, besser des epischen Erzählers pse_509.034 an. So deutlich im »Erlkönig« und im »Fischer«, und man pse_509.035 könnte vielleicht manchmal zweifeln, ob es dem Dichter pse_509.036 darauf ankam, die innere Ergriffenheit an einem Geschehen pse_509.037 herauszustellen oder das Geschehen ergriffen und erregt zu pse_509.038 erzählen. Im ersten Fall liegt der Weg zur Lyrik frei. Aber die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/525
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/525>, abgerufen am 24.11.2024.