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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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ebenso wie Mythos und Religion zwar Anregung, tritt selbst pse_508.002
aber zurück: einzelmenschliches Schicksal steht im Vordergrund. pse_508.003
Der Held bleibt im Untergang aufrecht. Es ist Adelsdichtung, pse_508.004
nicht Volksdichtung. Das knappe Erzählen, das von pse_508.005
Höhepunkt zu Höhepunkt schreitet, führt zur Verdichtung pse_508.006
in einzelne Szenen mit wenig Personen. In den Szenen herrscht pse_508.007
Gespräch vor, das aber die Handlung nicht untermalt, sondern pse_508.008
geradezu vorwärtstreibt; das Gespräch ist eine Art der pse_508.009
Handlungsdarstellung. So entstehen oft Redelieder, in denen pse_508.010
Erzählzeit und erzählte Zeit beinahe zusammenfallen. Der pse_508.011
Langvers, aus zwei Kurzversen verbunden, ist durch vier pse_508.012
Haupthebungen gegliedert, die auf die Sinnträger fallen. Drei pse_508.013
davon sind durch Stabreim verbunden. Die Senkungen sind pse_508.014
frei, so daß eine scharfe, heftige und reiche rhythmische Bewegung pse_508.015
entsteht. Ursprünglich fallen Zeile und Satz zusammen, pse_508.016
später greifen die Sätze oft über das Versende noch hinaus, pse_508.017
es entsteht der sogenannte Hakenstil. Manchmal, so besonders pse_508.018
in den nordgermanischen Heldenliedern, kommt es zu pse_508.019
Strophenbildung: meist schließen sich zwei Langverse da pse_508.020
enger zusammen. Der sprachliche Schmuck besteht aus ganz pse_508.021
bestimmten Zügen: feste Beiworte, kühne Bilder, die jeweils pse_508.022
den Menschen oder Gegenstand in einen ganz anderen Bereich pse_508.023
einordnen, etwa "Kampfbaum" für Held, und Abwandlungen pse_508.024
der Bilder, indem der Sachverhalt eben zweimal in ein pse_508.025
Bild verdichtet wird, damit um so eindringlicher wirkt. So pse_508.026
im Hildebrandslied: "die Rüstung gewinnen, Raub erringen".

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Manche Heldenlieder könnte man geradezu als Balladen pse_508.028
bezeichnen. Das Wort stammt aus dem Romanischen, wo es pse_508.029
ein Tanzlied meint. In England aber wendet man den Namen pse_508.030
auf volkstümlich-epische Lieder an. Berühmt und anregend pse_508.031
wurde Percys Sammlung "Relics of Ancient English Poetry" pse_508.032
(1763). Aber heute wissen wir, daß es schon im Mittelalter pse_508.033
Balladen gab, und zwar in Fortbildung der altgermanischen pse_508.034
Heldenlieder. Von der englischen Ballade geht einmal die pse_508.035
Volksballade aus, die durch die Sammlungen Herders und pse_508.036
der Romantiker wieder verbreitet wurde. Sie heißt so aus demselben pse_508.037
Grund, aus dem wir in der Lyrik von Volksliedern pse_508.038
sprachen. Dann auch die Kunstballade, eine bewußte künstlerische

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Der Held bleibt im Untergang aufrecht. Es ist Adelsdichtung, pse_508.004
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Manche Heldenlieder könnte man geradezu als Balladen pse_508.028
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Volksballade aus, die durch die Sammlungen Herders und pse_508.036
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[508/0524] pse_508.001 ebenso wie Mythos und Religion zwar Anregung, tritt selbst pse_508.002 aber zurück: einzelmenschliches Schicksal steht im Vordergrund. pse_508.003 Der Held bleibt im Untergang aufrecht. Es ist Adelsdichtung, pse_508.004 nicht Volksdichtung. Das knappe Erzählen, das von pse_508.005 Höhepunkt zu Höhepunkt schreitet, führt zur Verdichtung pse_508.006 in einzelne Szenen mit wenig Personen. In den Szenen herrscht pse_508.007 Gespräch vor, das aber die Handlung nicht untermalt, sondern pse_508.008 geradezu vorwärtstreibt; das Gespräch ist eine Art der pse_508.009 Handlungsdarstellung. So entstehen oft Redelieder, in denen pse_508.010 Erzählzeit und erzählte Zeit beinahe zusammenfallen. Der pse_508.011 Langvers, aus zwei Kurzversen verbunden, ist durch vier pse_508.012 Haupthebungen gegliedert, die auf die Sinnträger fallen. Drei pse_508.013 davon sind durch Stabreim verbunden. Die Senkungen sind pse_508.014 frei, so daß eine scharfe, heftige und reiche rhythmische Bewegung pse_508.015 entsteht. Ursprünglich fallen Zeile und Satz zusammen, pse_508.016 später greifen die Sätze oft über das Versende noch hinaus, pse_508.017 es entsteht der sogenannte Hakenstil. Manchmal, so besonders pse_508.018 in den nordgermanischen Heldenliedern, kommt es zu pse_508.019 Strophenbildung: meist schließen sich zwei Langverse da pse_508.020 enger zusammen. Der sprachliche Schmuck besteht aus ganz pse_508.021 bestimmten Zügen: feste Beiworte, kühne Bilder, die jeweils pse_508.022 den Menschen oder Gegenstand in einen ganz anderen Bereich pse_508.023 einordnen, etwa »Kampfbaum« für Held, und Abwandlungen pse_508.024 der Bilder, indem der Sachverhalt eben zweimal in ein pse_508.025 Bild verdichtet wird, damit um so eindringlicher wirkt. So pse_508.026 im Hildebrandslied: »die Rüstung gewinnen, Raub erringen«. pse_508.027 Manche Heldenlieder könnte man geradezu als Balladen pse_508.028 bezeichnen. Das Wort stammt aus dem Romanischen, wo es pse_508.029 ein Tanzlied meint. In England aber wendet man den Namen pse_508.030 auf volkstümlich-epische Lieder an. Berühmt und anregend pse_508.031 wurde Percys Sammlung »Relics of Ancient English Poetry« pse_508.032 (1763). Aber heute wissen wir, daß es schon im Mittelalter pse_508.033 Balladen gab, und zwar in Fortbildung der altgermanischen pse_508.034 Heldenlieder. Von der englischen Ballade geht einmal die pse_508.035 Volksballade aus, die durch die Sammlungen Herders und pse_508.036 der Romantiker wieder verbreitet wurde. Sie heißt so aus demselben pse_508.037 Grund, aus dem wir in der Lyrik von Volksliedern pse_508.038 sprachen. Dann auch die Kunstballade, eine bewußte künstlerische

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/524>, abgerufen am 18.05.2024.