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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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sucht. Da er mit dem vorhandenen Kahn immer nur eine pse_472.002
Ziege hinüberschaffen kann, will er diese Überfahrt 300mal pse_472.003
erzählen, weil sie ja 300mal stattgefunden hat. Hier fehlt jede pse_472.004
Andeutung einer künstlerischen Gestaltung. Aber man erkennt pse_472.005
schon daran, daß es im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter pse_472.006
Zeit grundsätzlich drei Möglichkeiten gibt. Die häufigste ist pse_472.007
eben die Raffung: die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte. Der pse_472.008
Dichter erreicht das auf die verschiedenste Weise. Vor allem, pse_472.009
wie das Beispiel des "Jenatsch" gezeigt hat, werden nicht alle pse_472.010
Phasen und Teile in der gleichen Weise gerafft. Die Raffung pse_472.011
kann sukzessiv sein, d. h. nach dem Schema "und dann ... pse_472.012
und dann ... und dann", oder es können ähnliche Ereignisse pse_472.013
einfach zusammengefaßt werden: "immer wieder in dieser pse_472.014
Zeit ...", beides kann auch vermischt werden: "so geschah es pse_472.015
zum Beispiel ...". Damit ergeben sich schon die später zu betrachtenden pse_472.016
Unterschiede zwischen sogenannten Szenen und pse_472.017
Berichtsteilen, ferner kann der Dichter so die Gewichtigkeit pse_472.018
der einzelnen Glieder herausheben. Die radikalste Form der pse_472.019
Raffung ist die Aussparung: etwas wird im Gesamtverlauf pse_472.020
einfach übergangen. Die Grade der Raffung sind verschieden, pse_472.021
wir sprechen von verschiedener Raffungsintensität. Sehr selten pse_472.022
ist die Zeitdeckung, also völlige Übereinstimmung von erzählter pse_472.023
Zeit und Erzählzeit. Auch Zeitdehnung kommt vor, pse_472.024
wenn also das Erzählte einen kürzeren Zeitraum umfaßt, also pse_472.025
die Zeit des Lesens. Bekannt ist da der "Ulysses" von J. Joyce.

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Erst die neuere Theorie des Erzählens und der epischen pse_472.027
Kunst hat die Bedeutung des Erzählstandpunkts erkannt. Wir pse_472.028
beginnen dabei mit der Rolle des Erzählers im epischen Werk. pse_472.029
Sie zeigt sich schon in der Zeitschichtung. Es gibt in jedem pse_472.030
epischen Werk eine Erzählergegenwart, wenn man will, pse_472.031
einen eigenen Handlungsstrang, der allerdings meist in Teile pse_472.032
aufgesplittert ist. Besonders deutlich erkennt man ihn in pse_472.033
Fieldings "Tom Jones", in Raabes "Akten des Vogelsangs" pse_472.034
und in Th. Manns "Dr. Faustus": hier ist es die deutlich herausgearbeitete pse_472.035
Abfassung der Erinnerungen Zeitblooms in pse_472.036
der Zeit 1943-1945, die mitgestaltet wird. Dieser Strang ist pse_472.037
eigentlich handlungslos und besteht in den Darlegungen und pse_472.038
Zwischenbemerkungen des Erzählers. Manchmal allerdings

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sucht. Da er mit dem vorhandenen Kahn immer nur eine pse_472.002
Ziege hinüberschaffen kann, will er diese Überfahrt 300mal pse_472.003
erzählen, weil sie ja 300mal stattgefunden hat. Hier fehlt jede pse_472.004
Andeutung einer künstlerischen Gestaltung. Aber man erkennt pse_472.005
schon daran, daß es im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter pse_472.006
Zeit grundsätzlich drei Möglichkeiten gibt. Die häufigste ist pse_472.007
eben die Raffung: die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte. Der pse_472.008
Dichter erreicht das auf die verschiedenste Weise. Vor allem, pse_472.009
wie das Beispiel des »Jenatsch« gezeigt hat, werden nicht alle pse_472.010
Phasen und Teile in der gleichen Weise gerafft. Die Raffung pse_472.011
kann sukzessiv sein, d. h. nach dem Schema »und dann ... pse_472.012
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zum Beispiel ...«. Damit ergeben sich schon die später zu betrachtenden pse_472.016
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Berichtsteilen, ferner kann der Dichter so die Gewichtigkeit pse_472.018
der einzelnen Glieder herausheben. Die radikalste Form der pse_472.019
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wir sprechen von verschiedener Raffungsintensität. Sehr selten pse_472.022
ist die Zeitdeckung, also völlige Übereinstimmung von erzählter pse_472.023
Zeit und Erzählzeit. Auch Zeitdehnung kommt vor, pse_472.024
wenn also das Erzählte einen kürzeren Zeitraum umfaßt, also pse_472.025
die Zeit des Lesens. Bekannt ist da der »Ulysses« von J. Joyce.

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Erst die neuere Theorie des Erzählens und der epischen pse_472.027
Kunst hat die Bedeutung des Erzählstandpunkts erkannt. Wir pse_472.028
beginnen dabei mit der Rolle des Erzählers im epischen Werk. pse_472.029
Sie zeigt sich schon in der Zeitschichtung. Es gibt in jedem pse_472.030
epischen Werk eine Erzählergegenwart, wenn man will, pse_472.031
einen eigenen Handlungsstrang, der allerdings meist in Teile pse_472.032
aufgesplittert ist. Besonders deutlich erkennt man ihn in pse_472.033
Fieldings »Tom Jones«, in Raabes »Akten des Vogelsangs« pse_472.034
und in Th. Manns »Dr. Faustus«: hier ist es die deutlich herausgearbeitete pse_472.035
Abfassung der Erinnerungen Zeitblooms in pse_472.036
der Zeit 1943–1945, die mitgestaltet wird. Dieser Strang ist pse_472.037
eigentlich handlungslos und besteht in den Darlegungen und pse_472.038
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[472/0488] pse_472.001 sucht. Da er mit dem vorhandenen Kahn immer nur eine pse_472.002 Ziege hinüberschaffen kann, will er diese Überfahrt 300mal pse_472.003 erzählen, weil sie ja 300mal stattgefunden hat. Hier fehlt jede pse_472.004 Andeutung einer künstlerischen Gestaltung. Aber man erkennt pse_472.005 schon daran, daß es im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter pse_472.006 Zeit grundsätzlich drei Möglichkeiten gibt. Die häufigste ist pse_472.007 eben die Raffung: die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte. Der pse_472.008 Dichter erreicht das auf die verschiedenste Weise. Vor allem, pse_472.009 wie das Beispiel des »Jenatsch« gezeigt hat, werden nicht alle pse_472.010 Phasen und Teile in der gleichen Weise gerafft. Die Raffung pse_472.011 kann sukzessiv sein, d. h. nach dem Schema »und dann ... pse_472.012 und dann ... und dann«, oder es können ähnliche Ereignisse pse_472.013 einfach zusammengefaßt werden: »immer wieder in dieser pse_472.014 Zeit ...«, beides kann auch vermischt werden: »so geschah es pse_472.015 zum Beispiel ...«. Damit ergeben sich schon die später zu betrachtenden pse_472.016 Unterschiede zwischen sogenannten Szenen und pse_472.017 Berichtsteilen, ferner kann der Dichter so die Gewichtigkeit pse_472.018 der einzelnen Glieder herausheben. Die radikalste Form der pse_472.019 Raffung ist die Aussparung: etwas wird im Gesamtverlauf pse_472.020 einfach übergangen. Die Grade der Raffung sind verschieden, pse_472.021 wir sprechen von verschiedener Raffungsintensität. Sehr selten pse_472.022 ist die Zeitdeckung, also völlige Übereinstimmung von erzählter pse_472.023 Zeit und Erzählzeit. Auch Zeitdehnung kommt vor, pse_472.024 wenn also das Erzählte einen kürzeren Zeitraum umfaßt, also pse_472.025 die Zeit des Lesens. Bekannt ist da der »Ulysses« von J. Joyce. pse_472.026 Erst die neuere Theorie des Erzählens und der epischen pse_472.027 Kunst hat die Bedeutung des Erzählstandpunkts erkannt. Wir pse_472.028 beginnen dabei mit der Rolle des Erzählers im epischen Werk. pse_472.029 Sie zeigt sich schon in der Zeitschichtung. Es gibt in jedem pse_472.030 epischen Werk eine Erzählergegenwart, wenn man will, pse_472.031 einen eigenen Handlungsstrang, der allerdings meist in Teile pse_472.032 aufgesplittert ist. Besonders deutlich erkennt man ihn in pse_472.033 Fieldings »Tom Jones«, in Raabes »Akten des Vogelsangs« pse_472.034 und in Th. Manns »Dr. Faustus«: hier ist es die deutlich herausgearbeitete pse_472.035 Abfassung der Erinnerungen Zeitblooms in pse_472.036 der Zeit 1943–1945, die mitgestaltet wird. Dieser Strang ist pse_472.037 eigentlich handlungslos und besteht in den Darlegungen und pse_472.038 Zwischenbemerkungen des Erzählers. Manchmal allerdings

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/488>, abgerufen am 20.05.2024.