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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur pse_471.002
in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen pse_471.003
gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem pse_471.004
Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen pse_471.005
oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann pse_471.006
den Phasenablauf auch verdecken.

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Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff pse_471.008
der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von pse_471.009
einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der pse_471.010
Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach pse_471.011
auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang pse_471.012
sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.

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Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines pse_471.014
Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten pse_471.015
Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht. pse_471.016
Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens. pse_471.017
Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere pse_471.018
raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der pse_471.019
Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses pse_471.020
Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir pse_471.021
wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung pse_471.022
handelt. Die Spannung zwischen dem Geschehen und seiner pse_471.023
erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter pse_471.024
Zeit und Erzählzeit,
die besonders G. Müller hervorgehoben pse_471.025
hat. Wir meinen mit der Erzählzeit die Dauer des Lesens, also pse_471.026
etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die pse_471.027
Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen pse_471.028
liegen, zeigen folgende Angaben: "Wilhelm Meisters Lehrjahre": pse_471.029
Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben pse_471.030
Reihenfolge: V. Woolf, "Mrs. Dalloway": 6 Stunden -- pse_471.031
12 Stunden; Bergengruen: "Am Himmel wie auf Erden": pse_471.032
600 Seiten -- 5 Wochen. Besonders eigenartig im "Jürg pse_471.033
Jenatsch": die 200 Seiten erzählen von 18 Jahren oder 6570 pse_471.034
Tagen. Davon fallen 14 Tage auf 170 Seiten.

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Damit ergibt sich sofort das Problem der Raffung. Wie pse_471.036
entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der "Erzählkunst" pse_471.037
Sancho Pansas ("Don Quijote", 1. Buch, 20. Kapitel). Er erzählt, pse_471.038
wie ein Schäfer dreihundert Ziegen über den Fluß zu bringen

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Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur pse_471.002
in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen pse_471.003
gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem pse_471.004
Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen pse_471.005
oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann pse_471.006
den Phasenablauf auch verdecken.

pse_471.007
Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff pse_471.008
der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von pse_471.009
einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der pse_471.010
Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach pse_471.011
auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang pse_471.012
sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.

pse_471.013
Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines pse_471.014
Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten pse_471.015
Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht. pse_471.016
Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens. pse_471.017
Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere pse_471.018
raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der pse_471.019
Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses pse_471.020
Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir pse_471.021
wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung pse_471.022
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erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter pse_471.024
Zeit und Erzählzeit,
die besonders G. Müller hervorgehoben pse_471.025
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etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die pse_471.027
Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen pse_471.028
liegen, zeigen folgende Angaben: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«: pse_471.029
Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben pse_471.030
Reihenfolge: V. Woolf, »Mrs. Dalloway«: 6 Stunden — pse_471.031
12 Stunden; Bergengruen: »Am Himmel wie auf Erden«: pse_471.032
600 Seiten — 5 Wochen. Besonders eigenartig im »Jürg pse_471.033
Jenatsch«: die 200 Seiten erzählen von 18 Jahren oder 6570 pse_471.034
Tagen. Davon fallen 14 Tage auf 170 Seiten.

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Damit ergibt sich sofort das Problem der Raffung. Wie pse_471.036
entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der »Erzählkunst« pse_471.037
Sancho Pansas (»Don Quijote«, 1. Buch, 20. Kapitel). Er erzählt, pse_471.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/487>, abgerufen am 20.05.2024.