pse_471.001 Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur pse_471.002 in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen pse_471.003 gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem pse_471.004 Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen pse_471.005 oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann pse_471.006 den Phasenablauf auch verdecken.
pse_471.007 Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff pse_471.008 der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von pse_471.009 einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der pse_471.010 Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach pse_471.011 auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang pse_471.012 sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.
pse_471.013 Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines pse_471.014 Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten pse_471.015 Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht. pse_471.016 Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens. pse_471.017 Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere pse_471.018 raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der pse_471.019 Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses pse_471.020 Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir pse_471.021 wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung pse_471.022 handelt. Die Spannung zwischen dem Geschehen und seiner pse_471.023 erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter pse_471.024 Zeit und Erzählzeit, die besonders G. Müller hervorgehoben pse_471.025 hat. Wir meinen mit der Erzählzeit die Dauer des Lesens, also pse_471.026 etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die pse_471.027 Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen pse_471.028 liegen, zeigen folgende Angaben: "Wilhelm Meisters Lehrjahre": pse_471.029 Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben pse_471.030 Reihenfolge: V. Woolf, "Mrs. Dalloway": 6 Stunden -- pse_471.031 12 Stunden; Bergengruen: "Am Himmel wie auf Erden": pse_471.032 600 Seiten -- 5 Wochen. Besonders eigenartig im "Jürg pse_471.033 Jenatsch": die 200 Seiten erzählen von 18 Jahren oder 6570 pse_471.034 Tagen. Davon fallen 14 Tage auf 170 Seiten.
pse_471.035 Damit ergibt sich sofort das Problem der Raffung. Wie pse_471.036 entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der "Erzählkunst" pse_471.037 Sancho Pansas ("Don Quijote", 1. Buch, 20. Kapitel). Er erzählt, pse_471.038 wie ein Schäfer dreihundert Ziegen über den Fluß zu bringen
pse_471.001 Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur pse_471.002 in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen pse_471.003 gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem pse_471.004 Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen pse_471.005 oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann pse_471.006 den Phasenablauf auch verdecken.
pse_471.007 Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff pse_471.008 der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von pse_471.009 einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der pse_471.010 Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach pse_471.011 auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang pse_471.012 sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.
pse_471.013 Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines pse_471.014 Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten pse_471.015 Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht. pse_471.016 Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens. pse_471.017 Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere pse_471.018 raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der pse_471.019 Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses pse_471.020 Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir pse_471.021 wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung pse_471.022 handelt. Die Spannung zwischen dem Geschehen und seiner pse_471.023 erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter pse_471.024 Zeit und Erzählzeit, die besonders G. Müller hervorgehoben pse_471.025 hat. Wir meinen mit der Erzählzeit die Dauer des Lesens, also pse_471.026 etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die pse_471.027 Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen pse_471.028 liegen, zeigen folgende Angaben: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«: pse_471.029 Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben pse_471.030 Reihenfolge: V. Woolf, »Mrs. Dalloway«: 6 Stunden — pse_471.031 12 Stunden; Bergengruen: »Am Himmel wie auf Erden«: pse_471.032 600 Seiten — 5 Wochen. Besonders eigenartig im »Jürg pse_471.033 Jenatsch«: die 200 Seiten erzählen von 18 Jahren oder 6570 pse_471.034 Tagen. Davon fallen 14 Tage auf 170 Seiten.
pse_471.035 Damit ergibt sich sofort das Problem der Raffung. Wie pse_471.036 entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der »Erzählkunst« pse_471.037 Sancho Pansas (»Don Quijote«, 1. Buch, 20. Kapitel). Er erzählt, pse_471.038 wie ein Schäfer dreihundert Ziegen über den Fluß zu bringen
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Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur pse_471.002
in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen pse_471.003
gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem pse_471.004
Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen pse_471.005
oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann pse_471.006
den Phasenablauf auch verdecken.
pse_471.007
Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff pse_471.008
der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von pse_471.009
einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der pse_471.010
Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach pse_471.011
auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang pse_471.012
sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.
pse_471.013
Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines pse_471.014
Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten pse_471.015
Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht. pse_471.016
Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens. pse_471.017
Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere pse_471.018
raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der pse_471.019
Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses pse_471.020
Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir pse_471.021
wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung pse_471.022
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erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter pse_471.024
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hat. Wir meinen mit der Erzählzeit die Dauer des Lesens, also pse_471.026
etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die pse_471.027
Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen pse_471.028
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Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben pse_471.030
Reihenfolge: V. Woolf, »Mrs. Dalloway«: 6 Stunden — pse_471.031
12 Stunden; Bergengruen: »Am Himmel wie auf Erden«: pse_471.032
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pse_471.035
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entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der »Erzählkunst« pse_471.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/487>, abgerufen am 22.11.2024.
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