pse_456.004 Wir wollen mit dem Worte "Epik" die Gesamtheit erzählender pse_456.005 Dichtung bezeichnen. In diesem Sinne kann "episch" pse_456.006 auch "erzählend" bedeuten. Es muß aber daran erinnert werden, pse_456.007 daß mit dem gleichen Wort im Sinne Staigers auch eine pse_456.008 menschlich-dichterische Grundhaltung gemeint ist, auf die pse_456.009 wir noch öfter hinweisen werden.
pse_456.010 Alle epische Dichtung hat als Ursituation das Erzählen. pse_456.011 Daran sind deutlich zwei Seiten unterscheidbar: 1. Jedes pse_456.012 Erzählen ist Sprechen, damit an Sprache gebunden, damit an pse_456.013 ihr Wesen, ihre schöpferischen Kräfte und ihre geistigen pse_456.014 Leistungen. 2. Jedes Erzählen setzt immer einen Erzähler im pse_456.015 Kreise von Zuhörern voraus. Wenn das auch in der heutigen pse_456.016 Kulturlage nicht mehr deutlich ist, so bleibt diese Situation pse_456.017 doch immer noch spürbar, vor allem im Verhältnis Autor -- pse_456.018 Leser und in Möglichkeiten der Erzähltechnik. J. Joyce in pse_456.019 seinem "Ulysses" sucht allerdings diese Ursituation weitgehend pse_456.020 zu verdecken oder gar zu zerstören.
pse_456.021 Die Ursituation des Erzählens besteht im Berichten. Wir pse_456.022 fassen im Augenblick dieses Wort in einem umfassenden Sinn, pse_456.023 nicht wie gleich später in einem engeren. Eine Welt von Begebenheiten pse_456.024 ist gleichsam die Energiequelle, sie wird im Sprechen pse_456.025 aufgebaut und zu einer Handlung zusammengezogen. pse_456.026 Die Grundform lautet -- so hat schon Herder erkannt -- "Es pse_456.027 ward". Aber sofort muß man diesem "Es ward" noch hinzufügen: pse_456.028 "und dann". Damit ist das ideale Grundgerüst alles pse_456.029 Erzählens festgelegt.
pse_456.030 Die Entfaltung aus diesem Grundgerüst entspricht nun pse_456.031 genau der Entfaltung der Sprache. Wir haben erkannt, daß pse_456.032 in der Urform alles sprachlichen Gestaltens ein Erfahrungsstück pse_456.033 aus der Fülle des Erlebens sprachlich neu gebaut wird.
pse_456.001 IV pse_456.002 DIE EPIK
pse_456.003 Das Erzählen
pse_456.004 Wir wollen mit dem Worte »Epik« die Gesamtheit erzählender pse_456.005 Dichtung bezeichnen. In diesem Sinne kann »episch« pse_456.006 auch »erzählend« bedeuten. Es muß aber daran erinnert werden, pse_456.007 daß mit dem gleichen Wort im Sinne Staigers auch eine pse_456.008 menschlich-dichterische Grundhaltung gemeint ist, auf die pse_456.009 wir noch öfter hinweisen werden.
pse_456.010 Alle epische Dichtung hat als Ursituation das Erzählen. pse_456.011 Daran sind deutlich zwei Seiten unterscheidbar: 1. Jedes pse_456.012 Erzählen ist Sprechen, damit an Sprache gebunden, damit an pse_456.013 ihr Wesen, ihre schöpferischen Kräfte und ihre geistigen pse_456.014 Leistungen. 2. Jedes Erzählen setzt immer einen Erzähler im pse_456.015 Kreise von Zuhörern voraus. Wenn das auch in der heutigen pse_456.016 Kulturlage nicht mehr deutlich ist, so bleibt diese Situation pse_456.017 doch immer noch spürbar, vor allem im Verhältnis Autor — pse_456.018 Leser und in Möglichkeiten der Erzähltechnik. J. Joyce in pse_456.019 seinem »Ulysses« sucht allerdings diese Ursituation weitgehend pse_456.020 zu verdecken oder gar zu zerstören.
pse_456.021 Die Ursituation des Erzählens besteht im Berichten. Wir pse_456.022 fassen im Augenblick dieses Wort in einem umfassenden Sinn, pse_456.023 nicht wie gleich später in einem engeren. Eine Welt von Begebenheiten pse_456.024 ist gleichsam die Energiequelle, sie wird im Sprechen pse_456.025 aufgebaut und zu einer Handlung zusammengezogen. pse_456.026 Die Grundform lautet — so hat schon Herder erkannt — »Es pse_456.027 ward«. Aber sofort muß man diesem »Es ward« noch hinzufügen: pse_456.028 »und dann«. Damit ist das ideale Grundgerüst alles pse_456.029 Erzählens festgelegt.
pse_456.030 Die Entfaltung aus diesem Grundgerüst entspricht nun pse_456.031 genau der Entfaltung der Sprache. Wir haben erkannt, daß pse_456.032 in der Urform alles sprachlichen Gestaltens ein Erfahrungsstück pse_456.033 aus der Fülle des Erlebens sprachlich neu gebaut wird.
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[E456/0472]
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DIE EPIK pse_456.003
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Wir wollen mit dem Worte »Epik« die Gesamtheit erzählender pse_456.005
Dichtung bezeichnen. In diesem Sinne kann »episch« pse_456.006
auch »erzählend« bedeuten. Es muß aber daran erinnert werden, pse_456.007
daß mit dem gleichen Wort im Sinne Staigers auch eine pse_456.008
menschlich-dichterische Grundhaltung gemeint ist, auf die pse_456.009
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Alle epische Dichtung hat als Ursituation das Erzählen. pse_456.011
Daran sind deutlich zwei Seiten unterscheidbar: 1. Jedes pse_456.012
Erzählen ist Sprechen, damit an Sprache gebunden, damit an pse_456.013
ihr Wesen, ihre schöpferischen Kräfte und ihre geistigen pse_456.014
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Kulturlage nicht mehr deutlich ist, so bleibt diese Situation pse_456.017
doch immer noch spürbar, vor allem im Verhältnis Autor — pse_456.018
Leser und in Möglichkeiten der Erzähltechnik. J. Joyce in pse_456.019
seinem »Ulysses« sucht allerdings diese Ursituation weitgehend pse_456.020
zu verdecken oder gar zu zerstören.
pse_456.021
Die Ursituation des Erzählens besteht im Berichten. Wir pse_456.022
fassen im Augenblick dieses Wort in einem umfassenden Sinn, pse_456.023
nicht wie gleich später in einem engeren. Eine Welt von Begebenheiten pse_456.024
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Die Grundform lautet — so hat schon Herder erkannt — »Es pse_456.027
ward«. Aber sofort muß man diesem »Es ward« noch hinzufügen: pse_456.028
»und dann«. Damit ist das ideale Grundgerüst alles pse_456.029
Erzählens festgelegt.
pse_456.030
Die Entfaltung aus diesem Grundgerüst entspricht nun pse_456.031
genau der Entfaltung der Sprache. Wir haben erkannt, daß pse_456.032
in der Urform alles sprachlichen Gestaltens ein Erfahrungsstück pse_456.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/472>, abgerufen am 22.11.2024.
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