Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_455.001
der Menschheit. Aber diese Darstellung ist eingefügt pse_455.002
einem Vorgang von lyrischer Einprägsamkeit: das pse_455.003
Glück des Menschen in der ihn umfangenden Natur, sein pse_455.004
Eindringen in ihre Schönheiten und Tiefen. Diese Rahmung pse_455.005
hat aber einen tieferen Sinn. Sie stellt auch die ganze Kulturentwicklung, pse_455.006
das ganze Tun des Menschen in einen höheren pse_455.007
Zusammenhang, eben den der Natur, geborgen von ihr und pse_455.008
in Auseinandersetzung mit ihr geht die große Bewegung der pse_455.009
Kultur weiter. In der Verquickung von Natur und Kultur pse_455.010
wirkt sich eine Spannung aus, die das Weltall beherrscht: pse_455.011
Ruhe und Bewegung: Ruhig und immer gleich umgibt die pse_455.012
Natur die ewig fortrollende Bewegung menschlichen Schaffens pse_455.013
und Leistens. Aber im höchsten gesehen, wird auch diese pse_455.014
Bewegung nur Auswirkung des Dauernden und Ewigen. So pse_455.015
wird die Natur Sinnbild für das Dauernde und Ewige im pse_455.016
Menschlichen. Das ist der Schluß des "Spaziergangs":

pse_455.017
Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig pse_455.018
Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um. pse_455.019
Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne pse_455.020
Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz, pse_455.021
Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne, pse_455.022
Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut, pse_455.023
Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter; pse_455.024
Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün pse_455.025
Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, pse_455.026
Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.
pse_455.027

Dieser Schluß geht ganz ins Lyrische ein: der Dichter ist zutiefst pse_455.028
betroffen von der Einsicht in die ewige Gleichheit der pse_455.029
Schöpfung, in die eingebettet auch das fernste Menschliche pse_455.030
ganz in die Nähe rückt, da es unter denselben Naturgegebenheiten pse_455.031
lebte.

pse_455.032
Trotz der mannigfachen Beziehungen zu den anderen pse_455.033
Gattungen, die in der Didaktik besonders groß und eng sind, pse_455.034
scheint es mir aber doch, daß sie aus Grundhaltung und dichterischen pse_455.035
Möglichkeiten eine Gattung für sich ist, zumindest es pse_455.036
unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Lagen sein pse_455.037
kann.

pse_455.001
der Menschheit. Aber diese Darstellung ist eingefügt pse_455.002
einem Vorgang von lyrischer Einprägsamkeit: das pse_455.003
Glück des Menschen in der ihn umfangenden Natur, sein pse_455.004
Eindringen in ihre Schönheiten und Tiefen. Diese Rahmung pse_455.005
hat aber einen tieferen Sinn. Sie stellt auch die ganze Kulturentwicklung, pse_455.006
das ganze Tun des Menschen in einen höheren pse_455.007
Zusammenhang, eben den der Natur, geborgen von ihr und pse_455.008
in Auseinandersetzung mit ihr geht die große Bewegung der pse_455.009
Kultur weiter. In der Verquickung von Natur und Kultur pse_455.010
wirkt sich eine Spannung aus, die das Weltall beherrscht: pse_455.011
Ruhe und Bewegung: Ruhig und immer gleich umgibt die pse_455.012
Natur die ewig fortrollende Bewegung menschlichen Schaffens pse_455.013
und Leistens. Aber im höchsten gesehen, wird auch diese pse_455.014
Bewegung nur Auswirkung des Dauernden und Ewigen. So pse_455.015
wird die Natur Sinnbild für das Dauernde und Ewige im pse_455.016
Menschlichen. Das ist der Schluß des »Spaziergangs«:

pse_455.017
Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig pse_455.018
Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um. pse_455.019
Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne pse_455.020
Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz, pse_455.021
Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne, pse_455.022
Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut, pse_455.023
Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter; pse_455.024
Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün pse_455.025
Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, pse_455.026
Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.
pse_455.027

Dieser Schluß geht ganz ins Lyrische ein: der Dichter ist zutiefst pse_455.028
betroffen von der Einsicht in die ewige Gleichheit der pse_455.029
Schöpfung, in die eingebettet auch das fernste Menschliche pse_455.030
ganz in die Nähe rückt, da es unter denselben Naturgegebenheiten pse_455.031
lebte.

pse_455.032
Trotz der mannigfachen Beziehungen zu den anderen pse_455.033
Gattungen, die in der Didaktik besonders groß und eng sind, pse_455.034
scheint es mir aber doch, daß sie aus Grundhaltung und dichterischen pse_455.035
Möglichkeiten eine Gattung für sich ist, zumindest es pse_455.036
unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Lagen sein pse_455.037
kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0471" n="455"/><lb n="pse_455.001"/>
der Menschheit. Aber diese Darstellung ist eingefügt <lb n="pse_455.002"/>
einem Vorgang von lyrischer Einprägsamkeit: das <lb n="pse_455.003"/>
Glück des Menschen in der ihn umfangenden Natur, sein <lb n="pse_455.004"/>
Eindringen in ihre Schönheiten und Tiefen. Diese Rahmung <lb n="pse_455.005"/>
hat aber einen tieferen Sinn. Sie stellt auch die ganze Kulturentwicklung, <lb n="pse_455.006"/>
das ganze Tun des Menschen in einen höheren <lb n="pse_455.007"/>
Zusammenhang, eben den der Natur, geborgen von ihr und <lb n="pse_455.008"/>
in Auseinandersetzung mit ihr geht die große Bewegung der <lb n="pse_455.009"/>
Kultur weiter. In der Verquickung von Natur und Kultur <lb n="pse_455.010"/>
wirkt sich eine Spannung aus, die das Weltall beherrscht: <lb n="pse_455.011"/>
Ruhe und Bewegung: Ruhig und immer gleich umgibt die <lb n="pse_455.012"/>
Natur die ewig fortrollende Bewegung menschlichen Schaffens <lb n="pse_455.013"/>
und Leistens. Aber im höchsten gesehen, wird auch diese <lb n="pse_455.014"/>
Bewegung nur Auswirkung des Dauernden und Ewigen. So <lb n="pse_455.015"/>
wird die Natur Sinnbild für das Dauernde und Ewige im <lb n="pse_455.016"/>
Menschlichen. Das ist der Schluß des »Spaziergangs«:</p>
            <lb n="pse_455.017"/>
            <lg>
              <l> <hi rendition="#aq">Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig</hi> </l>
              <lb n="pse_455.018"/>
              <l> <hi rendition="#aq">  Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um.</hi> </l>
              <lb n="pse_455.019"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne</hi> </l>
              <lb n="pse_455.020"/>
              <l> <hi rendition="#aq">  Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz,</hi> </l>
              <lb n="pse_455.021"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne,</hi> </l>
              <lb n="pse_455.022"/>
              <l> <hi rendition="#aq">  Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut,</hi> </l>
              <lb n="pse_455.023"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter;</hi> </l>
              <lb n="pse_455.024"/>
              <l> <hi rendition="#aq">  Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün</hi> </l>
              <lb n="pse_455.025"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter,</hi> </l>
              <lb n="pse_455.026"/>
              <l> <hi rendition="#aq">  Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.</hi> </l>
            </lg>
            <lb n="pse_455.027"/>
            <p>Dieser Schluß geht ganz ins Lyrische ein: der Dichter ist zutiefst <lb n="pse_455.028"/>
betroffen von der Einsicht in die ewige Gleichheit der <lb n="pse_455.029"/>
Schöpfung, in die eingebettet auch das fernste Menschliche <lb n="pse_455.030"/>
ganz in die Nähe rückt, da es unter denselben Naturgegebenheiten <lb n="pse_455.031"/>
lebte.</p>
            <p><lb n="pse_455.032"/>
Trotz der mannigfachen Beziehungen zu den anderen <lb n="pse_455.033"/>
Gattungen, die in der Didaktik besonders groß und eng sind, <lb n="pse_455.034"/>
scheint es mir aber doch, daß sie aus Grundhaltung und dichterischen <lb n="pse_455.035"/>
Möglichkeiten eine Gattung für sich ist, zumindest es <lb n="pse_455.036"/>
unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Lagen sein <lb n="pse_455.037"/>
kann.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[455/0471] pse_455.001 der Menschheit. Aber diese Darstellung ist eingefügt pse_455.002 einem Vorgang von lyrischer Einprägsamkeit: das pse_455.003 Glück des Menschen in der ihn umfangenden Natur, sein pse_455.004 Eindringen in ihre Schönheiten und Tiefen. Diese Rahmung pse_455.005 hat aber einen tieferen Sinn. Sie stellt auch die ganze Kulturentwicklung, pse_455.006 das ganze Tun des Menschen in einen höheren pse_455.007 Zusammenhang, eben den der Natur, geborgen von ihr und pse_455.008 in Auseinandersetzung mit ihr geht die große Bewegung der pse_455.009 Kultur weiter. In der Verquickung von Natur und Kultur pse_455.010 wirkt sich eine Spannung aus, die das Weltall beherrscht: pse_455.011 Ruhe und Bewegung: Ruhig und immer gleich umgibt die pse_455.012 Natur die ewig fortrollende Bewegung menschlichen Schaffens pse_455.013 und Leistens. Aber im höchsten gesehen, wird auch diese pse_455.014 Bewegung nur Auswirkung des Dauernden und Ewigen. So pse_455.015 wird die Natur Sinnbild für das Dauernde und Ewige im pse_455.016 Menschlichen. Das ist der Schluß des »Spaziergangs«: pse_455.017 Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig pse_455.018 Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um. pse_455.019 Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne pse_455.020 Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz, pse_455.021 Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne, pse_455.022 Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut, pse_455.023 Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter; pse_455.024 Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün pse_455.025 Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, pse_455.026 Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns. pse_455.027 Dieser Schluß geht ganz ins Lyrische ein: der Dichter ist zutiefst pse_455.028 betroffen von der Einsicht in die ewige Gleichheit der pse_455.029 Schöpfung, in die eingebettet auch das fernste Menschliche pse_455.030 ganz in die Nähe rückt, da es unter denselben Naturgegebenheiten pse_455.031 lebte. pse_455.032 Trotz der mannigfachen Beziehungen zu den anderen pse_455.033 Gattungen, die in der Didaktik besonders groß und eng sind, pse_455.034 scheint es mir aber doch, daß sie aus Grundhaltung und dichterischen pse_455.035 Möglichkeiten eine Gattung für sich ist, zumindest es pse_455.036 unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Lagen sein pse_455.037 kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/471
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/471>, abgerufen am 22.11.2024.