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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Wirklichkeit und als ideales Wunschbild, geht Goethe in pse_454.002
der "Metamorphose der Pflanze" von den Urformen der pse_454.003
Pflanze aus, also vom Engsten und Kleinsten, enthüllt aber in pse_454.004
ihren Wandlungen die geheimen Kräfte und Gesetze der Allnatur. pse_454.005
Gleich zu Anfang, nach der Anrede an die Geliebte, pse_454.006
wodurch der persönliche Ton ins Ganze kommt, deutet er pse_454.007
sofort diese Höhen und Hintergründe an:

pse_454.008
Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; pse_454.009
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, pse_454.010
Auf ein heiliges Rätsel. O könnt' ich dir, liebliche Freundin, pse_454.011
Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort.
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In diesen Versen deutet er das Hintergründige als etwas Heiliges pse_454.013
an und wendet sich wieder an die Freundin. So verdichtet pse_454.014
sich hier das Menschliche in der Bindung ans Du und in der pse_454.015
Verehrung des Heiligen. Die angedeutete Ahnung ewiger pse_454.016
Gesetze aber stellt das ganze Folgende unter ihre Erwartung pse_454.017
und erhöht damit die Bedeutsamkeit alles einzeln Gebotenen. pse_454.018
Diese doppelte Einfügung des Lehrhaften in eine menschliche pse_454.019
Bindung und in einen Aufblick zu den ewigen Gesetzen bildet pse_454.020
auch den Schluß des Ganzen:

pse_454.021
Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe pse_454.022
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, pse_454.023
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun pse_454.024
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.
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In diesem Schluß des Gedichts fassen wir nochmals ganz pse_454.026
deutlich, wie Lehrdichtung als reine Dichtung möglich ist: pse_454.027
Verdichtung höchster Sprachkunst mit Einsatz aller Stilkräfte pse_454.028
gestaltet eine innige Gemeinschaft des Sprechenden mit der pse_454.029
Geliebten, das Zeigen, das an sich schon aus tiefem Betrachten pse_454.030
herauswächst, wird so menschlich viel wärmer und eindringlicher. pse_454.031
Aus dieser Art des Zeigens wirkt der Aufbau der pse_454.032
Pflanzenwelt als schöner Vorgang und läßt immer mehr das pse_454.033
Höhere ahnen. In den Schlußversen klingt alles zusammen: pse_454.034
Freude, heilige Liebe, höchste Frucht, gleiche Gesinnungen, pse_454.035
harmonisches Anschauen und als letztes "die höhere Welt".

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Ähnlich vollkommen als Lehrdichtung erscheint Schillers pse_454.037
"Spaziergang". Das Lehrhafte ist die Darstellung der Kulturentwicklung

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der »Metamorphose der Pflanze« von den Urformen der pse_454.003
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sofort diese Höhen und Hintergründe an:

pse_454.008
Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; pse_454.009
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, pse_454.010
Auf ein heiliges Rätsel. O könnt' ich dir, liebliche Freundin, pse_454.011
Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort.
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In diesen Versen deutet er das Hintergründige als etwas Heiliges pse_454.013
an und wendet sich wieder an die Freundin. So verdichtet pse_454.014
sich hier das Menschliche in der Bindung ans Du und in der pse_454.015
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auch den Schluß des Ganzen:

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Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe pse_454.022
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, pse_454.023
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun pse_454.024
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.
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harmonisches Anschauen und als letztes »die höhere Welt«.

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[454/0470] pse_454.001 Wirklichkeit und als ideales Wunschbild, geht Goethe in pse_454.002 der »Metamorphose der Pflanze« von den Urformen der pse_454.003 Pflanze aus, also vom Engsten und Kleinsten, enthüllt aber in pse_454.004 ihren Wandlungen die geheimen Kräfte und Gesetze der Allnatur. pse_454.005 Gleich zu Anfang, nach der Anrede an die Geliebte, pse_454.006 wodurch der persönliche Ton ins Ganze kommt, deutet er pse_454.007 sofort diese Höhen und Hintergründe an: pse_454.008 Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; pse_454.009 Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, pse_454.010 Auf ein heiliges Rätsel. O könnt' ich dir, liebliche Freundin, pse_454.011 Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort. pse_454.012 In diesen Versen deutet er das Hintergründige als etwas Heiliges pse_454.013 an und wendet sich wieder an die Freundin. So verdichtet pse_454.014 sich hier das Menschliche in der Bindung ans Du und in der pse_454.015 Verehrung des Heiligen. Die angedeutete Ahnung ewiger pse_454.016 Gesetze aber stellt das ganze Folgende unter ihre Erwartung pse_454.017 und erhöht damit die Bedeutsamkeit alles einzeln Gebotenen. pse_454.018 Diese doppelte Einfügung des Lehrhaften in eine menschliche pse_454.019 Bindung und in einen Aufblick zu den ewigen Gesetzen bildet pse_454.020 auch den Schluß des Ganzen: pse_454.021 Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe pse_454.022 Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, pse_454.023 Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun pse_454.024 Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt. pse_454.025 In diesem Schluß des Gedichts fassen wir nochmals ganz pse_454.026 deutlich, wie Lehrdichtung als reine Dichtung möglich ist: pse_454.027 Verdichtung höchster Sprachkunst mit Einsatz aller Stilkräfte pse_454.028 gestaltet eine innige Gemeinschaft des Sprechenden mit der pse_454.029 Geliebten, das Zeigen, das an sich schon aus tiefem Betrachten pse_454.030 herauswächst, wird so menschlich viel wärmer und eindringlicher. pse_454.031 Aus dieser Art des Zeigens wirkt der Aufbau der pse_454.032 Pflanzenwelt als schöner Vorgang und läßt immer mehr das pse_454.033 Höhere ahnen. In den Schlußversen klingt alles zusammen: pse_454.034 Freude, heilige Liebe, höchste Frucht, gleiche Gesinnungen, pse_454.035 harmonisches Anschauen und als letztes »die höhere Welt«. pse_454.036 Ähnlich vollkommen als Lehrdichtung erscheint Schillers pse_454.037 »Spaziergang«. Das Lehrhafte ist die Darstellung der Kulturentwicklung

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/470>, abgerufen am 20.05.2024.