pse_439.001 Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002 Gattung. Thomasin von Zerkläres "Welscher Gast" ist neben pse_439.003 Freidanks Spruchsammlung "Bescheidenheit" besonders bekannt. pse_439.004 Aber auch die "Divina Commedia" von Dante hat pse_439.005 viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006 Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007 Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008 späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009 der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010 aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011 denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012 vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013 Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014 ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene pse_439.015 Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016 neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017 seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die pse_439.018 Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019 Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. pse_439.020 Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021 als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022 wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023 Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024 logischer Fehler.
pse_439.025 Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026 man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027 einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028 der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029 langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030 Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031 zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032 Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033 bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034 sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035 geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036 nicht unbedingt eindeutig feststeht.
pse_439.037 Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, pse_439.038 dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir
pse_439.001 Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002 Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben pse_439.003 Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt. pse_439.004 Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat pse_439.005 viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006 Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007 Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008 späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009 der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010 aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011 denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012 vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013 Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014 ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene pse_439.015 Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016 neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017 seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die pse_439.018 Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019 Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. pse_439.020 Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021 als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022 wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023 Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024 logischer Fehler.
pse_439.025 Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026 man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027 einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028 der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029 langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030 Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031 zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032 Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033 bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034 sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035 geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036 nicht unbedingt eindeutig feststeht.
pse_439.037 Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, pse_439.038 dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0455"n="439"/><lbn="pse_439.001"/>
Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte <lbn="pse_439.002"/>
Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben <lbn="pse_439.003"/>
Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt. <lbn="pse_439.004"/>
Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat <lbn="pse_439.005"/>
viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches <lbn="pse_439.006"/>
Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. <lbn="pse_439.007"/>
Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im <lbn="pse_439.008"/>
späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl <lbn="pse_439.009"/>
der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings <lbn="pse_439.010"/>
aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man <lbn="pse_439.011"/>
denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß <lbn="pse_439.012"/>
vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der <lbn="pse_439.013"/>
Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. <lbn="pse_439.014"/>
ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene <lbn="pse_439.015"/>
Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform <lbn="pse_439.016"/>
neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen <lbn="pse_439.017"/>
seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die <lbn="pse_439.018"/>
Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den <lbn="pse_439.019"/>
Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. <lbn="pse_439.020"/>
Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt <lbn="pse_439.021"/>
als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, <lbn="pse_439.022"/>
wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher <lbn="pse_439.023"/>
Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein <lbn="pse_439.024"/>
logischer Fehler.</p><p><lbn="pse_439.025"/>
Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen <lbn="pse_439.026"/>
man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz <lbn="pse_439.027"/>
einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung <lbn="pse_439.028"/>
der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der <lbn="pse_439.029"/>
langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten <lbn="pse_439.030"/>
Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte <lbn="pse_439.031"/>
zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. <lbn="pse_439.032"/>
Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich <lbn="pse_439.033"/>
bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen <lbn="pse_439.034"/>
sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch <lbn="pse_439.035"/>
geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung <lbn="pse_439.036"/>
nicht unbedingt eindeutig feststeht.</p><p><lbn="pse_439.037"/>
Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, <lbn="pse_439.038"/>
dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[439/0455]
pse_439.001
Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002
Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben pse_439.003
Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt. pse_439.004
Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat pse_439.005
viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006
Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007
Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008
späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009
der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010
aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011
denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012
vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013
Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014
ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene pse_439.015
Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016
neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017
seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die pse_439.018
Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019
Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. pse_439.020
Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021
als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022
wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023
Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024
logischer Fehler.
pse_439.025
Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026
man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027
einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028
der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029
langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030
Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031
zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032
Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033
bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034
sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035
geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036
nicht unbedingt eindeutig feststeht.
pse_439.037
Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, pse_439.038
dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/455>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.