Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_432.001
Ergriffenheit, tiefster Aufwühlung sind. Nur weil eben die pse_432.002
gedankliche Bewältigung des ergriffenen Weltausschnitts an pse_432.003
sich schon Schwierigkeiten bereitet, kommt es so oft nicht pse_432.004
zur dichterischen Um- und Durchgestaltung. An sich aber ist pse_432.005
auch Gedankenlyrik durchaus möglich. Freilich rückt sie oft pse_432.006
in die Nähe der Didaktik. Was sie grundsätzlich davon unterscheidet, pse_432.007
ist die Grundhaltung, die jedem einzelnen gedankenlyrischen pse_432.008
Gedicht zugrunde liegt. Wenn die Gestaltung aus pse_432.009
der tiefen Ergriffenheit, der Aufwühlung durch einen Gedankenzusammenhang pse_432.010
herauswächst und wenn im Gedicht pse_432.011
dieser Gedankenzusammenhang als Erlebnis, also zugleich in pse_432.012
der Formwerdung seelischer Bewegtheit, lebendig wird, dann pse_432.013
liegt Gedankenlyrik vor. Kommt es dem Dichter aber darauf pse_432.014
an, aus betrachtender Haltung auf einen Gedankenzusammenhang pse_432.015
hinzuweisen, ihn zugleich in dichterischer Gestaltung pse_432.016
aufzubauen, dann tritt die innere Ergriffenheit in der Gestaltung pse_432.017
zurück, wenn sie auch eine der Antriebskräfte des pse_432.018
Gedichts gewesen sein mag. Wir können da von Didaktik pse_432.019
sprechen.

pse_432.020
e) Eine besondere Art der Gedankenlyrik ist die Spruchdichtung. pse_432.021
Geschieht die dichterische Prägung eines gedanklichen pse_432.022
Zusammenhangs in besonders knapper und geschlossener pse_432.023
Form, dann nennen wir solche Gebilde Sprüche. Bevor pse_432.024
wir auf die Möglichkeiten und Formen eingehen, sei an einem pse_432.025
Beispiel das Lyrische auch an solchen Gedichten und die pse_432.026
Eigenart im Rahmen der gesamten Lyrik gezeigt.

pse_432.027

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, pse_432.028
Im Kreis das All am Finger laufen ließe! pse_432.029
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, pse_432.030
Natur in sich, sich in Natur zu hegen, pse_432.031
So daß, was in ihm lebt und webt und ist, pse_432.032
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.
pse_432.033
   (Goethe, Gott und Welt)

pse_432.034

Es liegt ein knappes Gebilde vor uns, aus drei Reimpaaren pse_432.035
bestehend. Jedes Reimpaar bringt ein geschlossenes sprachliches pse_432.036
Bild. Das erste ist sehr anschaulich im strengen Sinn pse_432.037
des Worts: Gott und All getrennt, dieses von Gott an seinem pse_432.038
Finger gedreht: so wird eine Spannung zwischen Gott und

pse_432.001
Ergriffenheit, tiefster Aufwühlung sind. Nur weil eben die pse_432.002
gedankliche Bewältigung des ergriffenen Weltausschnitts an pse_432.003
sich schon Schwierigkeiten bereitet, kommt es so oft nicht pse_432.004
zur dichterischen Um- und Durchgestaltung. An sich aber ist pse_432.005
auch Gedankenlyrik durchaus möglich. Freilich rückt sie oft pse_432.006
in die Nähe der Didaktik. Was sie grundsätzlich davon unterscheidet, pse_432.007
ist die Grundhaltung, die jedem einzelnen gedankenlyrischen pse_432.008
Gedicht zugrunde liegt. Wenn die Gestaltung aus pse_432.009
der tiefen Ergriffenheit, der Aufwühlung durch einen Gedankenzusammenhang pse_432.010
herauswächst und wenn im Gedicht pse_432.011
dieser Gedankenzusammenhang als Erlebnis, also zugleich in pse_432.012
der Formwerdung seelischer Bewegtheit, lebendig wird, dann pse_432.013
liegt Gedankenlyrik vor. Kommt es dem Dichter aber darauf pse_432.014
an, aus betrachtender Haltung auf einen Gedankenzusammenhang pse_432.015
hinzuweisen, ihn zugleich in dichterischer Gestaltung pse_432.016
aufzubauen, dann tritt die innere Ergriffenheit in der Gestaltung pse_432.017
zurück, wenn sie auch eine der Antriebskräfte des pse_432.018
Gedichts gewesen sein mag. Wir können da von Didaktik pse_432.019
sprechen.

pse_432.020
e) Eine besondere Art der Gedankenlyrik ist die Spruchdichtung. pse_432.021
Geschieht die dichterische Prägung eines gedanklichen pse_432.022
Zusammenhangs in besonders knapper und geschlossener pse_432.023
Form, dann nennen wir solche Gebilde Sprüche. Bevor pse_432.024
wir auf die Möglichkeiten und Formen eingehen, sei an einem pse_432.025
Beispiel das Lyrische auch an solchen Gedichten und die pse_432.026
Eigenart im Rahmen der gesamten Lyrik gezeigt.

pse_432.027

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, pse_432.028
Im Kreis das All am Finger laufen ließe! pse_432.029
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, pse_432.030
Natur in sich, sich in Natur zu hegen, pse_432.031
So daß, was in ihm lebt und webt und ist, pse_432.032
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.
pse_432.033
   (Goethe, Gott und Welt)

pse_432.034

Es liegt ein knappes Gebilde vor uns, aus drei Reimpaaren pse_432.035
bestehend. Jedes Reimpaar bringt ein geschlossenes sprachliches pse_432.036
Bild. Das erste ist sehr anschaulich im strengen Sinn pse_432.037
des Worts: Gott und All getrennt, dieses von Gott an seinem pse_432.038
Finger gedreht: so wird eine Spannung zwischen Gott und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0448" n="432"/><lb n="pse_432.001"/>
Ergriffenheit, tiefster Aufwühlung sind. Nur weil eben die <lb n="pse_432.002"/>
gedankliche Bewältigung des ergriffenen Weltausschnitts an <lb n="pse_432.003"/>
sich schon Schwierigkeiten bereitet, kommt es so oft nicht <lb n="pse_432.004"/>
zur dichterischen Um- und Durchgestaltung. An sich aber ist <lb n="pse_432.005"/>
auch Gedankenlyrik durchaus möglich. Freilich rückt sie oft <lb n="pse_432.006"/>
in die Nähe der Didaktik. Was sie grundsätzlich davon unterscheidet, <lb n="pse_432.007"/>
ist die Grundhaltung, die jedem einzelnen gedankenlyrischen <lb n="pse_432.008"/>
Gedicht zugrunde liegt. Wenn die Gestaltung aus <lb n="pse_432.009"/>
der tiefen Ergriffenheit, der Aufwühlung durch einen Gedankenzusammenhang <lb n="pse_432.010"/>
herauswächst und wenn im Gedicht <lb n="pse_432.011"/>
dieser Gedankenzusammenhang als Erlebnis, also zugleich in <lb n="pse_432.012"/>
der Formwerdung seelischer Bewegtheit, lebendig wird, dann <lb n="pse_432.013"/>
liegt Gedankenlyrik vor. Kommt es dem Dichter aber darauf <lb n="pse_432.014"/>
an, aus betrachtender Haltung auf einen Gedankenzusammenhang <lb n="pse_432.015"/>
hinzuweisen, ihn zugleich in dichterischer Gestaltung <lb n="pse_432.016"/>
aufzubauen, dann tritt die innere Ergriffenheit in der Gestaltung <lb n="pse_432.017"/>
zurück, wenn sie auch eine der Antriebskräfte des <lb n="pse_432.018"/>
Gedichts gewesen sein mag. Wir können da von Didaktik <lb n="pse_432.019"/>
sprechen.</p>
            <p><lb n="pse_432.020"/>
e) Eine besondere Art der Gedankenlyrik ist die <hi rendition="#i">Spruchdichtung.</hi> <lb n="pse_432.021"/>
Geschieht die dichterische Prägung eines gedanklichen <lb n="pse_432.022"/>
Zusammenhangs in besonders knapper und geschlossener <lb n="pse_432.023"/>
Form, dann nennen wir solche Gebilde Sprüche. Bevor <lb n="pse_432.024"/>
wir auf die Möglichkeiten und Formen eingehen, sei an einem <lb n="pse_432.025"/>
Beispiel das Lyrische auch an solchen Gedichten und die <lb n="pse_432.026"/>
Eigenart im Rahmen der gesamten Lyrik gezeigt.</p>
            <lb n="pse_432.027"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,</l>
                  <lb n="pse_432.028"/>
                  <l>Im Kreis das All am Finger laufen ließe!</l>
                  <lb n="pse_432.029"/>
                  <l>Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,</l>
                  <lb n="pse_432.030"/>
                  <l>Natur in sich, sich in Natur zu hegen,</l>
                  <lb n="pse_432.031"/>
                  <l>So daß, was in ihm lebt und webt und ist,</l>
                  <lb n="pse_432.032"/>
                  <l>Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.</l>
                </lg>
              </hi> <lb n="pse_432.033"/> <hi rendition="#right">
                <space dim="horizontal"/> <hi rendition="#aq">(Goethe, Gott und Welt)</hi> </hi> </p>
            <lb n="pse_432.034"/>
            <p>Es liegt ein knappes Gebilde vor uns, aus drei Reimpaaren <lb n="pse_432.035"/>
bestehend. Jedes Reimpaar bringt ein geschlossenes sprachliches <lb n="pse_432.036"/>
Bild. Das erste ist sehr anschaulich im strengen Sinn <lb n="pse_432.037"/>
des Worts: Gott und All getrennt, dieses von Gott an seinem <lb n="pse_432.038"/>
Finger gedreht: so wird eine Spannung zwischen Gott und
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[432/0448] pse_432.001 Ergriffenheit, tiefster Aufwühlung sind. Nur weil eben die pse_432.002 gedankliche Bewältigung des ergriffenen Weltausschnitts an pse_432.003 sich schon Schwierigkeiten bereitet, kommt es so oft nicht pse_432.004 zur dichterischen Um- und Durchgestaltung. An sich aber ist pse_432.005 auch Gedankenlyrik durchaus möglich. Freilich rückt sie oft pse_432.006 in die Nähe der Didaktik. Was sie grundsätzlich davon unterscheidet, pse_432.007 ist die Grundhaltung, die jedem einzelnen gedankenlyrischen pse_432.008 Gedicht zugrunde liegt. Wenn die Gestaltung aus pse_432.009 der tiefen Ergriffenheit, der Aufwühlung durch einen Gedankenzusammenhang pse_432.010 herauswächst und wenn im Gedicht pse_432.011 dieser Gedankenzusammenhang als Erlebnis, also zugleich in pse_432.012 der Formwerdung seelischer Bewegtheit, lebendig wird, dann pse_432.013 liegt Gedankenlyrik vor. Kommt es dem Dichter aber darauf pse_432.014 an, aus betrachtender Haltung auf einen Gedankenzusammenhang pse_432.015 hinzuweisen, ihn zugleich in dichterischer Gestaltung pse_432.016 aufzubauen, dann tritt die innere Ergriffenheit in der Gestaltung pse_432.017 zurück, wenn sie auch eine der Antriebskräfte des pse_432.018 Gedichts gewesen sein mag. Wir können da von Didaktik pse_432.019 sprechen. pse_432.020 e) Eine besondere Art der Gedankenlyrik ist die Spruchdichtung. pse_432.021 Geschieht die dichterische Prägung eines gedanklichen pse_432.022 Zusammenhangs in besonders knapper und geschlossener pse_432.023 Form, dann nennen wir solche Gebilde Sprüche. Bevor pse_432.024 wir auf die Möglichkeiten und Formen eingehen, sei an einem pse_432.025 Beispiel das Lyrische auch an solchen Gedichten und die pse_432.026 Eigenart im Rahmen der gesamten Lyrik gezeigt. pse_432.027 Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, pse_432.028 Im Kreis das All am Finger laufen ließe! pse_432.029 Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, pse_432.030 Natur in sich, sich in Natur zu hegen, pse_432.031 So daß, was in ihm lebt und webt und ist, pse_432.032 Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt. pse_432.033 (Goethe, Gott und Welt) pse_432.034 Es liegt ein knappes Gebilde vor uns, aus drei Reimpaaren pse_432.035 bestehend. Jedes Reimpaar bringt ein geschlossenes sprachliches pse_432.036 Bild. Das erste ist sehr anschaulich im strengen Sinn pse_432.037 des Worts: Gott und All getrennt, dieses von Gott an seinem pse_432.038 Finger gedreht: so wird eine Spannung zwischen Gott und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/448
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/448>, abgerufen am 22.11.2024.