pse_433.001 Welt greifbar, die Welt als etwas Mechanisches dem Gott pse_433.002 als etwas Großem gegenübergestellt. Im zweiten Reimpaar pse_433.003 wird die Verschmelzung von Gott und Welt gestaltet, Gott pse_433.004 gleichsam als Seele der Welt in ihr Inneres hineingezogen. pse_433.005 Das letzte Reimpaar lebt in seiner Wirkung von den Vorgangswörtern pse_433.006 des vorletzten und den Gegenstandswörtern pse_433.007 des letzten Verses: Leben, Kraft und Geist als das, was die pse_433.008 Welt ausmacht und zugleich das Göttliche in ihr darstellt. pse_433.009 Mit anderen Worten: Goethe hat aus seinem Gotteserleben pse_433.010 heraus, ergriffen von seiner Art, Gott zu sehen, diesen Gedankenzusammenhang pse_433.011 in knappe sprachkünstlerische Form pse_433.012 gefügt und auch seine eigene Ergriffenheit mitgeformt, was pse_433.013 schon im Ausrufcharakter des ersten Verses deutlich wird. pse_433.014 Aber das unmittelbare Innere eines lyrischen Ich tritt doch pse_433.015 etwas zurück gegen den Versuch einer knappen Form. Aus pse_433.016 dem tiefen Erleben Gottes in der Welt dringt der Dichter zu pse_433.017 einer beinahe formelhaften Prägung vor; die greifbaren und pse_433.018 eindrucksvollen sprachlichen Bilder gewinnen trotz der inneren pse_433.019 Unmittelbarkeit allgemein gültigen Charakter. Daraus pse_433.020 entsteht die Möglichkeit, sie als Beleg bei bestimmten Gelegenheiten pse_433.021 anzuwenden.
pse_433.022 Es ist nun möglich, den Spruch von verwandten Formen pse_433.023 abzuheben. Vom Lied trennt ihn äußerlich meist die Kürze, pse_433.024 er besteht beinahe immer nur aus einer Strophe. Viel tiefer pse_433.025 unterscheidet er sich im Wesen: es fehlt die Sangbarkeit. pse_433.026 Denn nicht wird in ihm das Mitschwingen im Lebensrhythmus pse_433.027 und die völlige Verschmelzung des Ich mit dem erlebten pse_433.028 Weltbereich Gestalt, sondern der Sprecher nimmt deutlich pse_433.029 Stellung zum Erfaßten. Nur die Schlichtheit und Einfachheit pse_433.030 rückt ihn in die Nähe des Liedes. Vom Sprichwort trennt pse_433.031 ihn die betont künstlerische Form. Das Sprichwort kann in pse_433.032 Prosa geformt sein, oft steht es in Versen, sehr häufig reimt pse_433.033 es. Aber der Spruch als dichterische Form ist immer ein pse_433.034 Versgebilde. Daß häufig das Wort "Spruch" im Sinne von pse_433.035 Sprichwort verwendet wird oder als allgemeingültige, aber pse_433.036 knapp formulierte Aussage, sei nur nebenbei vermerkt. Aber pse_433.037 das Sprichwort ist volkstümlich, beinahe kunstlos und vor pse_433.038 allem viel knapper; es begnügt sich mit einem scharf geschnittenen
pse_433.001 Welt greifbar, die Welt als etwas Mechanisches dem Gott pse_433.002 als etwas Großem gegenübergestellt. Im zweiten Reimpaar pse_433.003 wird die Verschmelzung von Gott und Welt gestaltet, Gott pse_433.004 gleichsam als Seele der Welt in ihr Inneres hineingezogen. pse_433.005 Das letzte Reimpaar lebt in seiner Wirkung von den Vorgangswörtern pse_433.006 des vorletzten und den Gegenstandswörtern pse_433.007 des letzten Verses: Leben, Kraft und Geist als das, was die pse_433.008 Welt ausmacht und zugleich das Göttliche in ihr darstellt. pse_433.009 Mit anderen Worten: Goethe hat aus seinem Gotteserleben pse_433.010 heraus, ergriffen von seiner Art, Gott zu sehen, diesen Gedankenzusammenhang pse_433.011 in knappe sprachkünstlerische Form pse_433.012 gefügt und auch seine eigene Ergriffenheit mitgeformt, was pse_433.013 schon im Ausrufcharakter des ersten Verses deutlich wird. pse_433.014 Aber das unmittelbare Innere eines lyrischen Ich tritt doch pse_433.015 etwas zurück gegen den Versuch einer knappen Form. Aus pse_433.016 dem tiefen Erleben Gottes in der Welt dringt der Dichter zu pse_433.017 einer beinahe formelhaften Prägung vor; die greifbaren und pse_433.018 eindrucksvollen sprachlichen Bilder gewinnen trotz der inneren pse_433.019 Unmittelbarkeit allgemein gültigen Charakter. Daraus pse_433.020 entsteht die Möglichkeit, sie als Beleg bei bestimmten Gelegenheiten pse_433.021 anzuwenden.
pse_433.022 Es ist nun möglich, den Spruch von verwandten Formen pse_433.023 abzuheben. Vom Lied trennt ihn äußerlich meist die Kürze, pse_433.024 er besteht beinahe immer nur aus einer Strophe. Viel tiefer pse_433.025 unterscheidet er sich im Wesen: es fehlt die Sangbarkeit. pse_433.026 Denn nicht wird in ihm das Mitschwingen im Lebensrhythmus pse_433.027 und die völlige Verschmelzung des Ich mit dem erlebten pse_433.028 Weltbereich Gestalt, sondern der Sprecher nimmt deutlich pse_433.029 Stellung zum Erfaßten. Nur die Schlichtheit und Einfachheit pse_433.030 rückt ihn in die Nähe des Liedes. Vom Sprichwort trennt pse_433.031 ihn die betont künstlerische Form. Das Sprichwort kann in pse_433.032 Prosa geformt sein, oft steht es in Versen, sehr häufig reimt pse_433.033 es. Aber der Spruch als dichterische Form ist immer ein pse_433.034 Versgebilde. Daß häufig das Wort »Spruch« im Sinne von pse_433.035 Sprichwort verwendet wird oder als allgemeingültige, aber pse_433.036 knapp formulierte Aussage, sei nur nebenbei vermerkt. Aber pse_433.037 das Sprichwort ist volkstümlich, beinahe kunstlos und vor pse_433.038 allem viel knapper; es begnügt sich mit einem scharf geschnittenen
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Welt greifbar, die Welt als etwas Mechanisches dem Gott pse_433.002
als etwas Großem gegenübergestellt. Im zweiten Reimpaar pse_433.003
wird die Verschmelzung von Gott und Welt gestaltet, Gott pse_433.004
gleichsam als Seele der Welt in ihr Inneres hineingezogen. pse_433.005
Das letzte Reimpaar lebt in seiner Wirkung von den Vorgangswörtern pse_433.006
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Mit anderen Worten: Goethe hat aus seinem Gotteserleben pse_433.010
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pse_433.022
Es ist nun möglich, den Spruch von verwandten Formen pse_433.023
abzuheben. Vom Lied trennt ihn äußerlich meist die Kürze, pse_433.024
er besteht beinahe immer nur aus einer Strophe. Viel tiefer pse_433.025
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rückt ihn in die Nähe des Liedes. Vom Sprichwort trennt pse_433.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/449>, abgerufen am 22.11.2024.
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