pse_412.001 die Maske herunterreißt. Aber es bleiben eindringlichste pse_412.002 sprachliche Bilder, nur werden eben andere Weltausschnitte pse_412.003 erlebt, und zwar so, daß man die Erschütterung des lyrischen pse_412.004 Ich mitspürt.
pse_412.005
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,pse_412.006 sah so angeknabbert aus.pse_412.007 Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.pse_412.008 Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfellpse_412.009 Fand man ein Nest von jungen Ratten.pse_412.010 Ein kleines Schwesterchen lag tot.pse_412.011 Die andern lebten von Leber und Niere.pse_412.012 Tranken das kalte Blut und hattenpse_412.013 Hier eine schöne Jugend verlebt.pse_412.014 Und schön und schnell kam auch ihr Tod:pse_412.015 Man warf sie allesamt ins Wasser.pse_412.016 Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
pse_412.017 Die Stilkräfte sind auch entscheidend für den Bau der pse_412.018 lyrischen Gedichte. In Gedichten, in denen die Lautungswerte pse_412.019 stark sind, wird auch der Bau durch sie bestimmt. Der rhythmische pse_412.020 Fortlauf und der Klang der Laute, die Dynamik der pse_412.021 Redebewegung führt zu einem Aufbau, der durch Gleiten, pse_412.022 durch unmerkbare Übergänge, durch allmählichen Stimmungswandel pse_412.023 gekennzeichnet ist. Hofmannsthals Gedichte pse_412.024 weisen vielfach solche Anlage auf. Wo aber stark in sich geschlossene pse_412.025 Bilder den Stil bestimmen, erhält der Aufbau eine pse_412.026 scharfe, klare Linie; die Glieder sind deutlich voneinander abgehoben. pse_412.027 Man mag solche Anlagen als musikalisch und plastisch pse_412.028 bezeichnen, muß sich aber klar sein, daß damit nur ein pse_412.029 Eindruck wiedergegeben wird, nicht die Anlage in ihrer Art pse_412.030 durchschaut ist.
pse_412.031 Da moderne Lyrik vielfach scheinbar neue Züge aufweist, pse_412.032 daß sie vielen -- und nicht nur Banausen und Vergreisten, pse_412.033 wie überkluge Kritiker gerne möchten -- mindestens fremd pse_412.034 ist, soll die Bedeutung der Sprache in der modernen Lyrik noch pse_412.035 kurz betrachtet werden. Ein Grundzug ist sehr klar. Man pse_412.036 rückt von der Sprache als Mitteilungsinstrument so stark als pse_412.037 möglich ab. Man will nicht mehr, wie banale Lyrik des pse_412.038 19. Jahrhunderts, Gefühle oder Gegenstände beschreiben mit pse_412.039 Worten, die vor allem ihrer konventionellen Bedeutung wegen
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Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,pse_412.006 sah so angeknabbert aus.pse_412.007 Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.pse_412.008 Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfellpse_412.009 Fand man ein Nest von jungen Ratten.pse_412.010 Ein kleines Schwesterchen lag tot.pse_412.011 Die andern lebten von Leber und Niere.pse_412.012 Tranken das kalte Blut und hattenpse_412.013 Hier eine schöne Jugend verlebt.pse_412.014 Und schön und schnell kam auch ihr Tod:pse_412.015 Man warf sie allesamt ins Wasser.pse_412.016 Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
pse_412.017 Die Stilkräfte sind auch entscheidend für den Bau der pse_412.018 lyrischen Gedichte. In Gedichten, in denen die Lautungswerte pse_412.019 stark sind, wird auch der Bau durch sie bestimmt. Der rhythmische pse_412.020 Fortlauf und der Klang der Laute, die Dynamik der pse_412.021 Redebewegung führt zu einem Aufbau, der durch Gleiten, pse_412.022 durch unmerkbare Übergänge, durch allmählichen Stimmungswandel pse_412.023 gekennzeichnet ist. Hofmannsthals Gedichte pse_412.024 weisen vielfach solche Anlage auf. Wo aber stark in sich geschlossene pse_412.025 Bilder den Stil bestimmen, erhält der Aufbau eine pse_412.026 scharfe, klare Linie; die Glieder sind deutlich voneinander abgehoben. pse_412.027 Man mag solche Anlagen als musikalisch und plastisch pse_412.028 bezeichnen, muß sich aber klar sein, daß damit nur ein pse_412.029 Eindruck wiedergegeben wird, nicht die Anlage in ihrer Art pse_412.030 durchschaut ist.
pse_412.031 Da moderne Lyrik vielfach scheinbar neue Züge aufweist, pse_412.032 daß sie vielen — und nicht nur Banausen und Vergreisten, pse_412.033 wie überkluge Kritiker gerne möchten — mindestens fremd pse_412.034 ist, soll die Bedeutung der Sprache in der modernen Lyrik noch pse_412.035 kurz betrachtet werden. Ein Grundzug ist sehr klar. Man pse_412.036 rückt von der Sprache als Mitteilungsinstrument so stark als pse_412.037 möglich ab. Man will nicht mehr, wie banale Lyrik des pse_412.038 19. Jahrhunderts, Gefühle oder Gegenstände beschreiben mit pse_412.039 Worten, die vor allem ihrer konventionellen Bedeutung wegen
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die Maske herunterreißt. Aber es bleiben eindringlichste pse_412.002
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Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, pse_412.006
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Fortlauf und der Klang der Laute, die Dynamik der pse_412.021
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Bilder den Stil bestimmen, erhält der Aufbau eine pse_412.026
scharfe, klare Linie; die Glieder sind deutlich voneinander abgehoben. pse_412.027
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durchschaut ist.
pse_412.031
Da moderne Lyrik vielfach scheinbar neue Züge aufweist, pse_412.032
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19. Jahrhunderts, Gefühle oder Gegenstände beschreiben mit pse_412.039
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/428>, abgerufen am 22.11.2024.
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