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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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der Außenwelt aufgefangene Gehalt, verbinden sich zu einer pse_406.002
Schöpfung von besonderer Intensität. Dabei ergibt sich eine pse_406.003
Gefahr: Worte, Bilder, Satzgebilde können auch in der Dichtung pse_406.004
der Verflachung anheimfallen. Wenn immer wieder pse_406.005
Worte aus einem bestimmten Gefühlszusammenhang gebraucht pse_406.006
werden, besteht die Gefahr der veräußerlichenden pse_406.007
Sentimentalität, der Verkitschung. Immer wieder Herz und pse_406.008
Schmerz, immer wieder Liebe, Sehnsucht, Frühlingslüftlein pse_406.009
und Mondesnacht: da verlieren die Worte die Innerlichkeit pse_406.010
und Gestimmtheit des Gehalts, sie werden zu Schablonen pse_406.011
oder zu rosarotem Kitsch. Es bedarf großer Dichter, wenn sie pse_406.012
trotz der Gefahr es vermögen, auch solchen Worten wieder pse_406.013
ihre echte Stimmung und ihren tiefen Gehalt zu geben. Hier pse_406.014
liegt auch die Gefahr, daß modernen Menschen die romantische pse_406.015
Lyrik oder Schillers Sprache verekelt sind -- wegen pse_406.016
ihrer Nachtreter. Da kann nur feine Einführung retten und pse_406.017
die Fähigkeit, von aller Verkitschung abzusehen. In dieser pse_406.018
Lage ist es auch begründet, daß viele Dichter unserer Zeit pse_406.019
von solchen Worten ganz absehen. Und wenn die als poetisch pse_406.020
etikettierten Worte nicht mehr brauchbar sind, so greifen sie pse_406.021
eben zur Alltagssprache. Neben Rilke, Benn, Brecht sind pse_406.022
vor allem angloamerikanische Dichter zu erwähnen: Auden, pse_406.023
T. S. Eliot und andere. Wenn nicht die Alltagssprache in pse_406.024
ihrer Nüchternheit eben auch eine bestimmte Gefühlslage, pse_406.025
die der Ernüchterung, der Blasiertheit, der hoffnungslosen pse_406.026
Verödung gestalten soll, dann steht der Dichter vor der Aufgabe, pse_406.027
auch den schon ganz verblaßten Gebrauchswörtern der pse_406.028
täglichen Rede das Leben wieder einzuhauchen, das sie einst pse_406.029
besessen haben. Hier spüren wir dann ganz die Bedeutung pse_406.030
der Aktualisierung.

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Schweigen scheint das Gegenteil von Fülle der Sprachkunst pse_406.032
zu sein. Aber auch Sparsamkeit kann künstlerisch wirken. pse_406.033
Knappheit gegenüber Gesprächigkeit bringt erst recht die pse_406.034
Werte der einzelnen Worte zum Schwingen. Fülle bedeutet pse_406.035
also nicht Wortreichtum, sondern Intensität, Vermeiden des pse_406.036
Leerlaufs. Besonders werden die Worte herausgehoben, wenn pse_406.037
die Satzbewegung scheinbar oder wirklich nicht weitergeführt pse_406.038
wird, wenn also der Satz ins Schweigen mündet.

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der Außenwelt aufgefangene Gehalt, verbinden sich zu einer pse_406.002
Schöpfung von besonderer Intensität. Dabei ergibt sich eine pse_406.003
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Sentimentalität, der Verkitschung. Immer wieder Herz und pse_406.008
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trotz der Gefahr es vermögen, auch solchen Worten wieder pse_406.013
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Lyrik oder Schillers Sprache verekelt sind — wegen pse_406.016
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etikettierten Worte nicht mehr brauchbar sind, so greifen sie pse_406.021
eben zur Alltagssprache. Neben Rilke, Benn, Brecht sind pse_406.022
vor allem angloamerikanische Dichter zu erwähnen: Auden, pse_406.023
T. S. Eliot und andere. Wenn nicht die Alltagssprache in pse_406.024
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Verödung gestalten soll, dann steht der Dichter vor der Aufgabe, pse_406.027
auch den schon ganz verblaßten Gebrauchswörtern der pse_406.028
täglichen Rede das Leben wieder einzuhauchen, das sie einst pse_406.029
besessen haben. Hier spüren wir dann ganz die Bedeutung pse_406.030
der Aktualisierung.

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Schweigen scheint das Gegenteil von Fülle der Sprachkunst pse_406.032
zu sein. Aber auch Sparsamkeit kann künstlerisch wirken. pse_406.033
Knappheit gegenüber Gesprächigkeit bringt erst recht die pse_406.034
Werte der einzelnen Worte zum Schwingen. Fülle bedeutet pse_406.035
also nicht Wortreichtum, sondern Intensität, Vermeiden des pse_406.036
Leerlaufs. Besonders werden die Worte herausgehoben, wenn pse_406.037
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[406/0422] pse_406.001 der Außenwelt aufgefangene Gehalt, verbinden sich zu einer pse_406.002 Schöpfung von besonderer Intensität. Dabei ergibt sich eine pse_406.003 Gefahr: Worte, Bilder, Satzgebilde können auch in der Dichtung pse_406.004 der Verflachung anheimfallen. Wenn immer wieder pse_406.005 Worte aus einem bestimmten Gefühlszusammenhang gebraucht pse_406.006 werden, besteht die Gefahr der veräußerlichenden pse_406.007 Sentimentalität, der Verkitschung. Immer wieder Herz und pse_406.008 Schmerz, immer wieder Liebe, Sehnsucht, Frühlingslüftlein pse_406.009 und Mondesnacht: da verlieren die Worte die Innerlichkeit pse_406.010 und Gestimmtheit des Gehalts, sie werden zu Schablonen pse_406.011 oder zu rosarotem Kitsch. Es bedarf großer Dichter, wenn sie pse_406.012 trotz der Gefahr es vermögen, auch solchen Worten wieder pse_406.013 ihre echte Stimmung und ihren tiefen Gehalt zu geben. Hier pse_406.014 liegt auch die Gefahr, daß modernen Menschen die romantische pse_406.015 Lyrik oder Schillers Sprache verekelt sind — wegen pse_406.016 ihrer Nachtreter. Da kann nur feine Einführung retten und pse_406.017 die Fähigkeit, von aller Verkitschung abzusehen. In dieser pse_406.018 Lage ist es auch begründet, daß viele Dichter unserer Zeit pse_406.019 von solchen Worten ganz absehen. Und wenn die als poetisch pse_406.020 etikettierten Worte nicht mehr brauchbar sind, so greifen sie pse_406.021 eben zur Alltagssprache. Neben Rilke, Benn, Brecht sind pse_406.022 vor allem angloamerikanische Dichter zu erwähnen: Auden, pse_406.023 T. S. Eliot und andere. Wenn nicht die Alltagssprache in pse_406.024 ihrer Nüchternheit eben auch eine bestimmte Gefühlslage, pse_406.025 die der Ernüchterung, der Blasiertheit, der hoffnungslosen pse_406.026 Verödung gestalten soll, dann steht der Dichter vor der Aufgabe, pse_406.027 auch den schon ganz verblaßten Gebrauchswörtern der pse_406.028 täglichen Rede das Leben wieder einzuhauchen, das sie einst pse_406.029 besessen haben. Hier spüren wir dann ganz die Bedeutung pse_406.030 der Aktualisierung. pse_406.031 Schweigen scheint das Gegenteil von Fülle der Sprachkunst pse_406.032 zu sein. Aber auch Sparsamkeit kann künstlerisch wirken. pse_406.033 Knappheit gegenüber Gesprächigkeit bringt erst recht die pse_406.034 Werte der einzelnen Worte zum Schwingen. Fülle bedeutet pse_406.035 also nicht Wortreichtum, sondern Intensität, Vermeiden des pse_406.036 Leerlaufs. Besonders werden die Worte herausgehoben, wenn pse_406.037 die Satzbewegung scheinbar oder wirklich nicht weitergeführt pse_406.038 wird, wenn also der Satz ins Schweigen mündet.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/422>, abgerufen am 20.05.2024.