pse_405.001 Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte pse_405.002 regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003 werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der pse_405.004 Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine pse_405.005 Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006 als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, pse_405.007 aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn pse_405.008 in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener pse_405.009 Dichtung -- auch für die Oper gilt das -- nicht zu einer bloß pse_405.010 äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen pse_405.011 Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung pse_405.012 keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine pse_405.013 innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam pse_405.014 ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung pse_405.015 bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur pse_405.016 bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig pse_405.017 die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama pse_405.018 und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort pse_405.019 eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020 Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021 der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022 das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023 Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024 Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025 schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen pse_405.026 der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027 Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028 er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029 daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030 das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031 Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032 vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.
pse_405.033 In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034 Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035 Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036 Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037 Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038 innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von
pse_405.001 Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte pse_405.002 regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003 werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der pse_405.004 Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine pse_405.005 Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006 als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, pse_405.007 aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn pse_405.008 in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener pse_405.009 Dichtung — auch für die Oper gilt das — nicht zu einer bloß pse_405.010 äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen pse_405.011 Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung pse_405.012 keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine pse_405.013 innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam pse_405.014 ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung pse_405.015 bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur pse_405.016 bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig pse_405.017 die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama pse_405.018 und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort pse_405.019 eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020 Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021 der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022 das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023 Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024 Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025 schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen pse_405.026 der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027 Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028 er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029 daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030 das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031 Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032 vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.
pse_405.033 In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034 Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035 Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036 Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037 Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038 innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0421"n="405"/><lbn="pse_405.001"/>
Frage der <hirendition="#i">Vertonung</hi> eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte <lbn="pse_405.002"/>
regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu <lbn="pse_405.003"/>
werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der <lbn="pse_405.004"/>
Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine <lbn="pse_405.005"/>
Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten <lbn="pse_405.006"/>
als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, <lbn="pse_405.007"/>
aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn <lbn="pse_405.008"/>
in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener <lbn="pse_405.009"/>
Dichtung — auch für die Oper gilt das — nicht zu einer bloß <lbn="pse_405.010"/>
äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen <lbn="pse_405.011"/>
Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung <lbn="pse_405.012"/>
keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine <lbn="pse_405.013"/>
innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam <lbn="pse_405.014"/>
ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung <lbn="pse_405.015"/>
bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur <lbn="pse_405.016"/>
bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig <lbn="pse_405.017"/>
die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama <lbn="pse_405.018"/>
und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort <lbn="pse_405.019"/>
eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines <lbn="pse_405.020"/>
Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen <lbn="pse_405.021"/>
der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; <lbn="pse_405.022"/>
das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste <lbn="pse_405.023"/>
Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische <lbn="pse_405.024"/>
Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz <lbn="pse_405.025"/>
schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen <lbn="pse_405.026"/>
der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte <lbn="pse_405.027"/>
Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte <lbn="pse_405.028"/>
er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, <lbn="pse_405.029"/>
daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist <lbn="pse_405.030"/>
das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. <lbn="pse_405.031"/>
Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder <lbn="pse_405.032"/>
vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.</p><p><lbn="pse_405.033"/>
In der Lyrik spielt die <hirendition="#i">Aktualisierung</hi> der Stilwerte eine besondere <lbn="pse_405.034"/>
Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle <lbn="pse_405.035"/>
Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der <lbn="pse_405.036"/>
Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des <lbn="pse_405.037"/>
Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das <lbn="pse_405.038"/>
innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[405/0421]
pse_405.001
Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte pse_405.002
regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003
werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der pse_405.004
Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine pse_405.005
Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006
als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, pse_405.007
aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn pse_405.008
in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener pse_405.009
Dichtung — auch für die Oper gilt das — nicht zu einer bloß pse_405.010
äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen pse_405.011
Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung pse_405.012
keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine pse_405.013
innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam pse_405.014
ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung pse_405.015
bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur pse_405.016
bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig pse_405.017
die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama pse_405.018
und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort pse_405.019
eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020
Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021
der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022
das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023
Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024
Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025
schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen pse_405.026
der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027
Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028
er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029
daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030
das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031
Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032
vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.
pse_405.033
In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034
Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035
Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036
Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037
Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038
innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/421>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.