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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Fühlst du die Jahre steigen? pse_407.002
Welle auf Welle rollt an. pse_407.003
Schweigen, Gespräche und Schweigen ... pse_407.004
Und dann?
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Aus Tau und Grünem ein Blitzen ... pse_407.006
Pfirsich und Birnenbiß ... pse_407.007
Flammende Pappelspitzen ... pse_407.008
Leuchtende Finsternis ...
pse_407.009
Fieber, Fröste und Schauer ... pse_407.010
Leise verrauchendes Blut. pse_407.011
Schmeckst du die salzige Trauer? pse_407.012
Schmecke sie gut.
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Salz der Meere, der Erde ... pse_407.014
Würze des Ichs und des Alls. -- pse_407.015
Habe den Mut: Werde pse_407.016
Salz.
   (Hagelstange, Salz)

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Zur vollen Entfaltung der sprachkünstlerischen Möglichkeiten pse_407.018
gehört gerade in der Lyrik die Lautung. Was im Alltag pse_407.019
verflacht und unnötig wird: der Rhythmus, der Klangzauber pse_407.020
der Worte und der Wortfolgen, die Dynamik, die Gleichklänge: pse_407.021
das alles beginnt im Gedicht zu wirken, aus diesen pse_407.022
Lautungen wachsen auch die Tiefen heraus. Aber freilich: pse_407.023
es ist ein Irrtum, den Gehalt der Worte, den Sinn der Satzbewegung pse_407.024
für überflüssig zu halten, nur mehr Gehörseindrücke pse_407.025
gelten zu lassen. Denn Sprache hat immer Sinn, Gehalt. pse_407.026
Alle Versuche der reinen Musik in der Dichtung haben pse_407.027
versagt. Dichtung ist Kunst aus Sprache, und Sprache ist pse_407.028
nicht bloß Klang und Geräusch, sondern eben in der Lautung pse_407.029
gestalteter Gehalt. "Wie in der modernen Malerei das autonom pse_407.030
gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche pse_407.031
verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst pse_407.032
zu erfüllen, so kann in der Lyrik das autonome Bewegungsgefüge pse_407.033
der Sprache, das Bedürfnis nach sinnfreien Klangfolgen pse_407.034
und Intensitätskurven bewirken, daß das Gedicht überhaupt pse_407.035
nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen pse_407.036
ist" (H. Friedrich). Der Vergleich ist falsch, er verfälscht das pse_407.037
Wesen der Sprache. Denn sie ist nicht bloß Klang, sondern pse_407.038
Sinn. Würde der Sinn ausgeschaltet, so wäre es keine Sprache pse_407.039
mehr, und auf diesem Gebilde der Sinnlosigkeit könnte keine

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Fühlst du die Jahre steigen? pse_407.002
Welle auf Welle rollt an. pse_407.003
Schweigen, Gespräche und Schweigen ... pse_407.004
Und dann?
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Aus Tau und Grünem ein Blitzen ... pse_407.006
Pfirsich und Birnenbiß ... pse_407.007
Flammende Pappelspitzen ... pse_407.008
Leuchtende Finsternis ...
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Fieber, Fröste und Schauer ... pse_407.010
Leise verrauchendes Blut. pse_407.011
Schmeckst du die salzige Trauer? pse_407.012
Schmecke sie gut.
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Salz der Meere, der Erde ... pse_407.014
Würze des Ichs und des Alls. — pse_407.015
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Salz.
   (Hagelstange, Salz)

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gehört gerade in der Lyrik die Lautung. Was im Alltag pse_407.019
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es ist ein Irrtum, den Gehalt der Worte, den Sinn der Satzbewegung pse_407.024
für überflüssig zu halten, nur mehr Gehörseindrücke pse_407.025
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versagt. Dichtung ist Kunst aus Sprache, und Sprache ist pse_407.028
nicht bloß Klang und Geräusch, sondern eben in der Lautung pse_407.029
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gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche pse_407.031
verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst pse_407.032
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nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen pse_407.036
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[407/0423] pse_407.001 Fühlst du die Jahre steigen? pse_407.002 Welle auf Welle rollt an. pse_407.003 Schweigen, Gespräche und Schweigen ... pse_407.004 Und dann? pse_407.005 Aus Tau und Grünem ein Blitzen ... pse_407.006 Pfirsich und Birnenbiß ... pse_407.007 Flammende Pappelspitzen ... pse_407.008 Leuchtende Finsternis ... pse_407.009 Fieber, Fröste und Schauer ... pse_407.010 Leise verrauchendes Blut. pse_407.011 Schmeckst du die salzige Trauer? pse_407.012 Schmecke sie gut. pse_407.013 Salz der Meere, der Erde ... pse_407.014 Würze des Ichs und des Alls. — pse_407.015 Habe den Mut: Werde pse_407.016 Salz. (Hagelstange, Salz) pse_407.017 Zur vollen Entfaltung der sprachkünstlerischen Möglichkeiten pse_407.018 gehört gerade in der Lyrik die Lautung. Was im Alltag pse_407.019 verflacht und unnötig wird: der Rhythmus, der Klangzauber pse_407.020 der Worte und der Wortfolgen, die Dynamik, die Gleichklänge: pse_407.021 das alles beginnt im Gedicht zu wirken, aus diesen pse_407.022 Lautungen wachsen auch die Tiefen heraus. Aber freilich: pse_407.023 es ist ein Irrtum, den Gehalt der Worte, den Sinn der Satzbewegung pse_407.024 für überflüssig zu halten, nur mehr Gehörseindrücke pse_407.025 gelten zu lassen. Denn Sprache hat immer Sinn, Gehalt. pse_407.026 Alle Versuche der reinen Musik in der Dichtung haben pse_407.027 versagt. Dichtung ist Kunst aus Sprache, und Sprache ist pse_407.028 nicht bloß Klang und Geräusch, sondern eben in der Lautung pse_407.029 gestalteter Gehalt. »Wie in der modernen Malerei das autonom pse_407.030 gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche pse_407.031 verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst pse_407.032 zu erfüllen, so kann in der Lyrik das autonome Bewegungsgefüge pse_407.033 der Sprache, das Bedürfnis nach sinnfreien Klangfolgen pse_407.034 und Intensitätskurven bewirken, daß das Gedicht überhaupt pse_407.035 nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen pse_407.036 ist« (H. Friedrich). Der Vergleich ist falsch, er verfälscht das pse_407.037 Wesen der Sprache. Denn sie ist nicht bloß Klang, sondern pse_407.038 Sinn. Würde der Sinn ausgeschaltet, so wäre es keine Sprache pse_407.039 mehr, und auf diesem Gebilde der Sinnlosigkeit könnte keine

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/423>, abgerufen am 22.11.2024.